Sechzigstes Capitel

[602] Auf dem Vorsaal unten begegnete er dem Baron Oldenburg.

Ich hätte große Lust, wieder umzukehren, sagte Oldenburg nach der ersten, von beiden Seiten ziemlich förmlichen Begrüßung; ich glaubte nicht, daß die Gesellschaft so groß sei, bin zu[602] Pferde gekommen und, wie Sie sehen, nicht ganz etiquettemäßig angeputzt. Wer ist denn Alles da?

Ich komme selbst erst in diesem Augenblick von oben; erwiederte Oswald; Bruno ist seit vorgestern unwohl; jetzt hat er mich fortgeschickt, weil er schlafen will.

O, das thut mir ja leid, sagte Oldenburg; der Junge wird hoffentlich nicht ernstlich krank werden. Sagten Sie mir nicht, daß er ein großer Liebling von Ihnen sei?

Ja. Haben Sie keine Nachricht von –

Von meiner Czika? nein.

Oldenburgs Gesicht verdüsterte sich. Wollen wir eintreten? fragte er.

In einem der Nebenzimmer zum Ballsaale begegneten sie dem alten Baron. Oldenburg ging nach einer kurzen Begrüßung in den Saal, Oswald mußte dem alten Herrn einen ausführlichen Bericht über Bruno's Befinden während der letzten Stunden machen.

Nun, das ist ja schön, recht schön, sagte er, daß wir noch so mit einem blauen Auge davonkommen; ich fürchtete schon, es würde ein Nervenfieber werden. Gehen Sie doch auch zu meiner Tochter und sagen Sie ihr: daß es sich mit Bruno bessert; sie hat sich schon ein paar Mal nach ihm erkundigt.

Oswald trat in den Saal. Man fing eben wieder einen Tanz an, den letzten vor der großen Pause, in welcher in den Sälen oben gespeist werden sollte. Er blieb in der Nähe der Thür auf dem Tritt des niedrigen Divans, der sich um den ganzen Saal herumzog, stehen. Die Paare der Tanzenden wechselten; bald kamen diese, bald jene in seine Nähe. Einmal stand Emilie von Breesen, die mit ihrem Bräutigam tanzte, dicht vor ihm. Sie that, als ob sie ihn nicht bemerkte; sie lachte und scherzte, vielleicht etwas zu laut – von Cloten dagegen machte von dem Vorrecht der Leute in seiner Situation, die gleichgültigsten Dinge im Flüsterton mit obligatem bedeutungsvollen Lächeln in die Ohren zu raunen, den ausgedehntesten Gebrauch.

Oswald hatte von der plötzlichen Verlobung dieser Beiden gehört; er wußte wohl am besten, wie dieselbe zu Stande gekommen[603] war. Er erinnerte sich, wie wegwerfend Emilie an dem Abend in Barnewitz sich über Cloten geäußert hatte. Jetzt war sie seine Braut. – Es wird eine unglückliche Ehe werden, dachte Oswald, und er mußte sich sagen, daß er nicht den kleinsten Theil der Schuld an diesem Unglück trage.

Ein paar Augenblicke später kam Helene in seine Nähe. Sie tanzte mit von Sylow. Oswald hatte sie schon längere Zeit beobachtet und bemerkt, daß sie schweigend und kalt, wie eine Marmorstatue neben ihrem Tänzer stand, der die Hoffnungslosigkeit seiner Bemühungen, eine Conversation zu Stande zu bringen, eingesehen zu haben und den Kronleuchtern eine specielle Aufmerksamkeit zu widmen schien. Sobald sie Oswald erblickte, flog ein Strahl des Lebens über die schönen ernsten Züge. Sie winkte ihm mit den Augen zu sich heran.

Wie geht es Bruno?

Danke! besser; er wollte schlafen.

Bleiben Sie hier?

Nein! ich werde sofort wieder hinaufgehen.

Grüßen Sie Bruno – und hier! nehmen Sie ihm diese Rosenknospe mit.

Helene nahm eine Rosenknospe aus dem Bouquet, welches sie in der Hand trug, und gab sie Oswald, der sie mit einer Verbeugung entgegennahm. Er bemerkte, daß von Sylow's Aufmerksamkeit sich plötzlich von den Kronleuchtern abgewandt hatte, und daß die Augen des jungen Edelmannes mit einem Ausdruck, der ihm durchaus nicht gefiel, auf ihm hafteten.

Im nächsten Moment stand ein anderes Paar auf der Stelle.

Hast Du Deinen alten Anbeter nicht gesehen, Emilie? sagte Cloten.

Wen?

Dort drüben, den Doctor Stein. Er stand vorhin dicht hinter uns.

Ach da! – meinen alten Anbeter! Du bist wohl toll, Arthur!

Nun, nun! sei nur nicht bös! ich glaube ja kein Wort[604] von der ganzen Geschichte. Aber um Himmelswillen, sieh doch nur! Er spricht jetzt mit Helene Grenwitz; sie giebt ihm eine Rose. Nein, da hört doch aber Alles auf! wahrhaftig, Alles!

Ich sagte Dir ja, daß die Beiden vollkommen einig seien. Er sticht Euch Alle aus.

Wahrhaftig – es ist stark! aber ich habe dafür gesorgt, daß die Geschichte unter die Leute kommt.

Was hast Du gethan?

Nun, ich habe weiter erzählt, was Du mir vorhin unter dem Siegel der Verschwiegenheit mittheiltest. Der ganze Saal weiß es schon.

Aber das hatte ich Dir nicht erlaubt.

Ich glaubte in Deinem Sinne zu handeln. Herr Stein wird es bereuen, wenn er sich nicht schleunigst mit seiner Rosenknospe entfernt.

Was hast Du vor?

O, wir wollen nur dem Burschen seinen Standpunkt klar machen. Es wird eine gottvolle Geschichte, wahrhaftig! Ich erzähle sie Dir nachher.

Der glückliche Bräutigam führte seine Braut, da der Tanz zu Ende war, nach ihrem Platz zurück und wandte sich zu von Sylow, der auf ihn zukam.

Hast Du gesehen, Cloten?

Na ob!

Es ist ein wahrer Scandal.

Ich bedaure nur den armen Felix.

Das müssen wir ihm doch erzählen. Weißt Du nicht, wo er ist?

Er sagte vorhin, das Tanzen langweile ihn; er wollte zu den Spielern gehen. Barnewitz hat, glaube ich, eine Bank aufgelegt. Wir können auch hin; es wird nicht mehr getanzt vor Tische. Es ist gerade noch Zeit, ein paar Louis zu gewinnen. Kommst Du mit?

Natürlich.

Emilie von Breesen hatte die Unterredung der Beiden aus[605] der Ferne beobachtet. Sie sah, wie sie lachend, Arm in Arm, den Saal verließen. Auch Oswald sah sie nicht mehr. Eine entsetzliche Angst ergriff sie. Sie hatte in ihrer eifersüchtigen Wuth zuerst Oswald's Namen mit dem Helenen's in Verbindung gebracht; sie hatte, sich an Oswald zu rächen, schon vor einigen Tagen Felix die Entdeckung, die sie gemacht zu haben glaubte, mitgetheilt. Sie hatte heute Abend wieder davon angefangen, um den geistlosen Neckereien Clotens ein Ende zu machen. Jetzt erst merkte sie, daß sie zu weit gegangen sei und daß sie vielleicht Oswald, den sie trotz alledem noch mit der ganzen Kraft ihres leidenschaftlichen Herzens liebte, einer großen Gefahr ausgesetzt habe. Sie hätte ihn vielleicht in der Raserei ihrer Eifersucht mit ihren eigenen Händen tödten können – aber ihn den brutalen Mißhandlungen Clotens und der Anderen aussetzen – der Gedanke war ihr fürchterlich. Sie blickte wie hülfesuchend im Saale umher.

Ihr Bruder kam in ihre Nähe. Sie rief ihn.

Was willst Du, Kleine?

Hast Du den Doctor Stein schon gesehen?

Ja, weshalb?

Du wolltest ihn ja während der Jagdzeit auf ein paar Tage zu uns einladen. Es wäre doch unartig, wenn wir uns jetzt gar nicht um ihn kümmerten.

Emilie war sehr roth geworden, als sie das sagte; ihre ganze Geistesgegenwart schien sie verlassen zu haben.

Ihn zu uns einladen? rief Adolf von Breesen, nun, das fehlte wahrhaftig noch! damit die albernen Klatschereien, die Lisbeth über Dich und ihn aufgebracht hat, doch ja unsterblich werden – ihn zu uns einladen? lieber wollte ich –

Ich bitte Dich, Adolf! sei still, der halbe Saal kann ja hören, was Du sagst.

Kleine! sagte der junge Mann in leisem, aber bestimmten Ton. Das gefällt mir nicht. Du weißt, ich habe Dich lieb, wie ein Bruder nur seine Schwester lieben kann; aber gerade deshalb muß ich dafür sorgen, daß Du Dich in keine solche[606] Thorheiten tiefer einläßt. Und ich werde dafür sorgen, verlaß Dich d'rauf!

Damit wandte er ihr den Rücken und ging den Anderen nach zum Saal hinaus.

Emilie hatte Mühe, ihre Thränen zurückzuhalten. Ihre Angst wuchs mit jeder Secunde. Es mußte Rath geschafft werden – so oder so.

Sie ging auf Helene zu, die nicht weit von ihr mit andern Damen auf dem Divan saß und sagte:

Auf ein Wort, Helene!

Was ist's? sagte Helene, aufstehend.

Komm ein wenig weiter hierher. – Helene, Du hast den Doctor Stein lieb, nicht wahr?

Wie kommst Du darauf? erwiederte Helene und die Gluth schoß ihr in die bleichen Wangen.

Gleichviel, ich habe ihn auch lieb; ich habe ihn sehr lieb, wenn Du willst – und deshalb bitte ich Dich, sage ihm – Du kannst es, ich kann es nicht, sonst würde ich es selber thun – er solle sich aus der Gesellschaft entfernen. Cloten und mein Bruder und die Anderen sind sehr aufgebracht über ihn. Ich fürchte, sie führen etwas gegen ihn im Schilde. Bitte, bitte, Helene, sage ihm: er solle fortgehen – gleich – ich wäre außer mir, wenn ihm auch nur die geringste Beleidigung von meinem Bruder oder von Cloten zugefügt würde.

Aber wo ist er? sagte Helene, welche die von Emilie ausgesprochenen Befürchtungen, freilich nicht ganz aus denselben Gründen, nur zu wahrscheinlich fand. Ich glaube, er ist schon wieder nach oben gegangen.

Wenn Du es nicht gewiß weißt, verlasse Dich nicht darauf. Frage doch den Bedienten da!

Haben Sie Herrn Doctor Stein nicht gesehen?

Er ist drüben, gnädiges Fräulein, in den Spielzimmern.

O, mein Gott, was sollen wir thun? sagte Emilie.

Baron Oldenburg! rief Helene; wollen Sie die Güte haben, einen Augenblick hierher zu kommen?[607]

Mit Vergnügen, mein Fräulein, sagte der Baron, der, die Hände auf dem Rücken, ein Gemälde an der Wand betrachtete.

Was hast Du vor, Helene?

Laß mich nur! Wollen Sie mir einen Gefallen thun, Herr Baron.

Mais sans doute!

Suchen Sie den Doctor Stein auf; er ist drüben in den Spielzimmern, und sagen Sie ihm: ich ließe ihn bitten, sogleich zu Bruno zurückkehren. Merken Sie wohl, Herr Baron: sogleich!

Es bedurfte nicht Oldenburg's Scharfblick, um zu sehen, daß dieser Auftrag, den ein Diener eben so gut hätte ausführen können, von tieferer Bedeutung war. Helene hatte die größte Mühe gehabt, die Worte in einem einigermaßen unbefangenen Tone hervorzubringen, und Emilien's mit dem Ausdruck der gespanntesten Erwartung auf ihn gerichtetes, von der innern Erregung blasses Gesicht, war ein sehr deutlicher Commentar zu Helenens Worten.

Ist das Alles, mein Fräulein?

Ja.

Ich gehe, Ihren Auftrag sofort und pünktlich auszurichten! sagte der Baron, sich verbeugend und mit, selbst für ihn ungewöhnlich langen Schritten den Saal verlassend.

Unterdessen hatte Oswald, nachdem Helene mit ihm gesprochen, sich zwecklos in den Zimmern umhergetrieben. Es war seine Absicht gewesen, sogleich hinauf zu gehen; der Gedanke, Bruno, wenn er wirklich, wie er hoffte, eingeschlafen sein sollte, nur zu stören; vielleicht der unbestimmte Wunsch, Helenen noch einmal zu sehen, und jene dunkle dämonische Macht, die den Menschen, unbekümmert um sein Wohl oder Wehe, seinem Schicksal entgegentreibt, ließen ihn nicht dazu kommen. Ohne kaum zu wissen, wie er dorthin gerathen war, fand er sich plötzlich in einem Zimmer auf der andern Seite des Flurs, wo sich eine Menge Herren um einen großen Tisch drängten. Einige saßen, die Meisten standen. Herr von Barnewitz saß in der Mitte und hielt Bank. Er mußte viel Glück gehabt haben.[608]

Große Haufen von Gold- und Silberstücken und Kassenscheinen lagen vor ihm und vermehrten sich mit jedem Augenblick. Felix saß in seiner Nähe. Er pointirte sehr eifrig, aber, wie es schien, nicht besonders glücklich. Sein Gesicht war stark geröthet, seine Augen mit Blut unterlaufen, die Adern auf seiner Stirn geschwollen. Er hörte wenig auf die Herren, die hinter ihm standen und von denen einige ihn noch aufzumuntern, andere zurückhalten zu wollen schienen. Oswald kam ihm zufällig gerade gegenüber zu stehen; Felix bemerkte ihn erst nach einiger Zeit; man hätte sehen können, daß von dem Augenblicke an seine Unruhe noch größer wurde; er trank ein Glas auf das andere aus der neben ihm stehenden Weinflasche, und verdoppelte und verdreifachte seine Einsätze, ohne einen andern Erfolg, als daß er doppelt und dreifach so viel und so schnell verlor, als vorher.

Eben war wieder eine Rolle Goldstücke zu den übrigen, die vor Barnewitz aufgehäuft waren, gewandert; Felix griff in die Brieftasche, die vor ihm lag, und holte eine Kassenanweisung heraus.

Sie werden doch nicht das Ganze auf einmal setzen wollen, Grenwitz? sagte von Grieben, seine lange Gestalt zu ihm niederbeugend.

Sie sind wohl toll, Grenwitz? sagte Cloten, der mit Sylow soeben herantrat.

Ach was! sagte Felix, das Andere hält nur auf.

Faites votre jeu, Messieurs! rief Barnewitz, ein neues Spiel Karten zur Hand nehmend.

Haben Sie gesetzt, Grenwitz?

Ja wohl!

Coeurdame für mich. Damen immer für mich. Danke, Grenwitz, kommen Sie bald wieder so.

Felix schien für den Augenblick diesem Wunsche nicht entsprechen zu können. Sein wirrer Blick irrte über den Kreis derer, die den Tisch umstanden und blieb auf Oswald haften.

Sie da! rief er plötzlich überlaut; holen Sie mir doch einmal ein Glas Wein.[609]

Oswald wurde erst, als die Augen Aller sich auf ihn wandten, inne, daß diese groben Worte an ihn gerichtet waren.

Der Mensch scheint nicht hören zu können, rief Felix. Sie sollen mir ein Glas Wein holen, verstanden!

Ich glaube, ein Glas Wasser würde Ihnen dienlicher sein, sagte Oswald, ohne seine Stellung zu verändern, mit ruhiger Stimme.

Es war so still in dem Zimmer geworden, daß man eine Nadel hätte fallen hören können.

Wie gefällt Ihnen das, meine Herren? sagte Felix, um sich blickend; mein Onkel hält sich eine allerliebste Sorte Diener, meinen Sie nicht?

Zeigen Sie ihm doch, wer Herr im Hause ist, sagte von Sylow.

Oder lassen Sie ihn eine Stunde nachsitzen, meinte von Grieben.

Oder geben Sie ihm die Ruthe, mit der er seine Buben züchtigt, sagte von Cloten.

Oder strafen Sie ihn mit der Verachtung, die er verdient, rief von Breesen.

Oswald wandte seine Augen von Einem zum Andern, wie ein Löwe, der nicht weiß, ob er sich auf die Hunde, die ihn umheulen, stürzen soll oder nicht. Seine Gestalt war hoch aufgerichtet. Vielleicht zitterte die Hand, die er auf den Tisch gelegt hatte, etwas; aber sicher nicht aus Feigheit.

Werden Sie gehen, oder nicht? rief Felix aufspringend und dicht vor Oswald tretend.

Treiben Sie die Unverschämtheit nicht zu weit, sagte Oswald, die Rosenknospe, die er für Bruno von Helene erhalten hatte, in das Knopfloch steckend; ich müßte sonst an Ihnen ein Exempel für die übrigen Bursche statuiren.

Felix faßte nach Oswald's Brust. Oswald packte ihn mit starken Armen, riß ihn in die Höhe und schmetterte ihn zu Boden, daß die Gläser und das Geld auf dem Tische erklirrten.

Wer hat Lust, der Zweite zu sein? rief er mit Donnerstimme;[610] kommt heran, Ihr feigen Wölfe, die Ihr nur in Rudeln jagt!

Seine Augen blitzten vor Kampfeslust; seine Brust wogte; seine Hände ballten sich krampfhaft; er achtete in diesem Moment sein Leben keine Nadel werth.

Das sahen Alle, und Keiner wagte, seine Herausforderung anzunehmen.

Felix hatte sich wieder aufgerafft und war in die Arme der ihm zunächst Stehenden zurückgetaumelt. Er war betäubt von dem schweren Fall; Blut strömte ihm aus Nase und Mund.

Ein drohendes Murren lief durch die Schaar. Man hörte einzelne Stimmen: sollen wir das dulden? – schlagt ihn nieder! – er darf nicht lebend vom Platz!

Sie drängten an ihn heran; ein wüstes Schreien und Toben brach aus dem Haufen; Oswalds Blicke suchten den heraus, welcher zunächst an die Reihe kommen sollte.

Da stand plötzlich Oldenburg neben ihm.

Wie, meine Herren? rief er, sich zu seiner ganzen stattlichen Höhe emporrichtend, zwanzig gegen Einen? Der Kampf ist doch ein wenig zu ungleich. Wollen Sie sich nicht lieber noch ein paar Bediente zur Hülfe rufen?

Dies Wort wirkte wie ein Zauber. Es stellte für Jeden die schimpfliche Scene in das rechte Licht. Die Verständigeren wußten dem Baron Dank, daß er ihnen eine Schande erspart hatte, die der nächste Augenblick über sie gebracht haben würde. Nur Einige schienen seine Dazwischenkunft übel zu empfinden.

Die Sache geht Sie nichts an, Baron, rief Grieben trotzig.

Erlauben Sie, Herr von Grieben, erwiederte Oldenburg, die Sache geht mich aus zwei Gründen etwas an. Einmal, weil ich es für die Pflicht eines jeden Mannes halte, darauf zu sehen, daß es bei solchen Affairen anständig und ehrlich zugeht, und zweitens, weil ich die Ehre habe, Herrn Doctor Stein meinen Freund zu nennen. Wenn Sie, oder irgend einer der[611] Herren mich für das, was ich hier gesagt habe, zur Rechenschaft ziehen zu müssen glauben, so stehe ich gern zu Diensten. Vorläufig aber verstatten Sie mir, daß die Angelegenheit meines Freundes, des Herrn Doctor Stein, wie es sich unter Männern ziemt, zu Ende geführt wird. Ich werde in wenigen Augenblicken wieder unter Ihnen sein, Ihre Aufträge entgegenzunehmen. Wollen Sie mir Ihren Arm geben, Herr Doctor?

Der Baron nahm Oswald's Arm in den seinen und führte ihn durch die Schaar der jungen Edelleute, die bereitwilligst Platz gab, hindurch zum Saale hinaus.

Draußen angelangt, sagte er: Gehen Sie nur auf Ihr Zimmer. Ich folge Ihnen in wenigen Minuten. Es versteht sich von selbst, daß Sie der Beleidigte sind.

Ja.

So werde ich Felix von Grenwitz in Ihrem Namen auf Pistolen fordern.

Ihn und wer sonst noch Lust hat einen Gang mit mir zu machen.

Wir wollen uns vorläufig mit Grenwitz begnügen. An den Andern ist Ihnen ja auch wohl so viel nicht gelegen. Wann?

Sobald wie möglich natürlich; morgen früh meinetwegen.

Bon. Zehn Schritt Distance etwa?

Oder fünf.

Zehn reicht aus. Das Uebrige überlassen Sie mir. Also à revoir in Ihrem Zimmer.

Der Baron kehrte auf den Schauplatz der letzten Scene zurück, wo natürlich die Sache von zwanzig Zeugen zugleich besprochen wurde, die bei Oldenburgs Eintreten verstummten. Oldenburg entledigte sich seines Auftrages an von Grieben, der es übernommen hatte, Felix zu secundiren. Es wurde ein Rencontre auf die fünfte Stunde des folgenden Tages (im Fall Felix sich bis dahin noch nicht erholt haben sollte, auf die zehnte) verabredet; das Rendezvous: ein kleines Wäldchen auf dem Gute Herrn von Clo ten's. Dann folgten die Herren in wenig festlicher Stimmung der schon zweimal an sie ergangenen Aufforderung,[612] sich in den Ballsaal zu verfügen, um die Damen zur Abendtafel hinauf zu begleiten. Felix war schon vorher von Einigen auf sein Zimmer geführt worden, da er zu berauscht und von seinem Falle noch zu betäubt war, um weiter an der Gesellschaft Theil nehmen zu können. Oldenburg begab sich zu Oswald zurück.

Als er ihn nicht in seinem Zimmer fand, und ihn bei Bruno vermuthete, aus dessen Zimmer das Licht durch die halb geöffnete Thür schimmerte, ging er leise dorthin und sah Oswald über des Knaben Bett gebeugt.

Wie steht es? fragte er.

Ich fürchte, schlecht, sagte Oswald, emporblickend; sein Schlaf ist sehr unruhig und der Puls fliegt.

Lassen Sie mich sehen, sagte Oldenburg, ich verstehe mich auf dergleichen.

Er ist in der That sehr krank, sagte er nach einer kleinen Pause. Wie lange währt denn dies schon und wie hat es angefangen?

Oswald gab ihm mit fliegenden Worten eine Schilderung von Bruno's Krankheit.

Und der Schmerz hatte vor einer Stunde völlig nachgelassen? fragte Oldenburg.

Ja, fast gänzlich –

Dann machen Sie sich auf das Schlimmste gefaßt. Ich vermuthe, es war von Anfang zweifellos eine Entzündung und jetzt ist der Brand hinzugetreten. Einer von uns muß nach dem Doctor. – Er sah nach der Uhr. Es ist zehn; ich wollte vor Tisch wieder nach Hause reiten. Mein Almansor steht in diesem Augenblick gesattelt vor der Thür. Reiten Sie nach der Stadt. Ich bin hier vielleicht jetzt nützlicher als Sie. Sie haben hellen Mondschein. Der Weg ist gut. Nach B. ist eine halbe Meile. In zehn Minuten spätestens müssen Sie dort sein. Ziehen Sie Ihren Frack aus und einen Ueberrock an. So! Peitsche und Sporen brauchen Sie nicht. Almansor ist noch ganz frisch. Schonen Sie ihn nicht.

Der Baron hatte Oswald den Rock anziehen helfen, ihm[613] den Hut auf den Kopf gesetzt. Oswald ließ Alles mit sich geschehen. Er fand sich erst auf Almansors Rücken wieder, als ihm der Nachtwind um die Ohren pfiff, und Bäume und Häuser, Hecken und Felder und Gärten rechts und links im Mondschein gespensterhaft an ihm vorüberflogen.

Und jetzt war er auf der weiten Haide, die sich hinter dem Dorfe bis nach Faschwitz erstreckt. Er sah den Mondschein unheimlich glitzern in dem schwarzen Wasser der tiefen Torfgräben; er hörte von Zeit zu Zeit den heisern Schrei eines Sumpfvogels, den er aus seinem Neste aufgeschreckt hatte; sonst nichts, nichts als den dumpfen Donner von Almansors flüchtigen Hufen und den Nachtwind, der seufzend und klagend über die Haide strich.

Und jetzt, als er mitten auf der Haide war – ist das nicht ein anderer Hufschlag außer dem Almansors, oder ist es nur das Echo? Es kommt näher und immer näher; Almansor spitzt die Ohren und greift aus, schneller und immer schneller, als flöhe er vor dem Tod. Und doch kommt es näher und immer näher. Oswald blickt sich um und ein Grausen packt ihn, als er jetzt dicht hinter sich eine lange schwarze Gestalt auf einem schwarzen Pferde bemerkt, dessen Hufe den Boden nicht zu berühren scheinen.

Noch eine Secunde und der schwarze Reiter ist an seiner Seite, die Pferde jagen Kopf an Kopf und schnauben sich an aus weit geöffneten Nüstern.

Was beliebt? reif Oswald, sein Grausen bemeisternd.

Nicht viel! erwiederte der schwarze Reiter mit einer tiefen Stimme. Wollte nur vermelden, daß meine gnädige Frau seit vorgestern zurück; ich dachte, der junge Herr wüßten's vielleicht nicht. Nichts für ungut, junger Herr! gute Nacht und gute Verrichtung!

Der Reiter warf sein Roß herum; Almansor stürmte weiter; im nächsten Augenblick schon war Oswald wieder allein.

War dies die Ausgeburt seines überreizten Hirns? war's Wirklichkeit? war es ein Phantom? war es der alte Baumann[614] auf dem Brownlock gewesen? Oswald hätte es nicht zu sagen gewußt.

Und wieder flogen Bäume und Häuser, Hecken und Gärten rechts und links gespensterhaft im Mondschein an ihm vorüber. Ein Hund fuhr heulend nach Almansors Hufen. Im nächsten Augenblick schon war Alles verschwunden und unübersehbare Kornfelder wogten und zischelten auf beiden Seiten der Landstraße.

Dann schimmerten Lichter herüber, näher und näher. Eine helle Glocke schlug einen Schlag an; schon ein viertel auf elf! und wieder Häuser rechts und links, Bäume und Hecken und Gärten. Dann ein dunkles Thor, und dann den Hufschlag Almansors auf dem Straßenpflaster.

Wo wohnt der Doctor Braun?

Die Straße zu Ende; das letzte Haus links.

Vor dem bezeichneten Hause hielt ein Wagen. Aus der offenen Hausthür und den offenen Fenstern in den Parterrezimmern schimmerte Licht.

Ist der Doctor zu Hause?

Hier! sagte Doctor Braun am Fenster erscheinend. Von wo her?

Von Grenwitz. Ich bin's. Eilen Sie; Bruno liegt auf den Tod.

Wollte eben hinaus, rief Doctor Braun, schon in der Thür. Setzen Sie sich zu mir. Ich will selber fahren. Karl kann Ihr Pferd langsam zurückreiten. Sitzen Sie? ja; dann fort.

Der Wagen donnerte durch die dunklen Straßen, durch das enge Thor, hinaus in die stille Mondnacht, die über Feldern und Gärten, und Wäldern und Wiesen so duftig und träumerisch lag, denselben Weg, den Oswald vor wenigen Minuten gekommen war. Die kräftigen Pferde des Doctors griffen mächtig aus, schon waren wieder auf der Haide.

Es war nicht viel gesprochen worden von beiden Seiten. Oswald hatte von Bruno's Krankheit, wie es der Laie pflegt, Bericht erstattet, auf Nebendingen verweilend, und das Wichtigste[615] auslassend. Doctor Braun hatte einige kurze Fragen gethan. Dann hatten sie eine Zeit lang geschwiegen.

Sie müssen sich auf das Schlimmste gefaßt machen! hub Doctor Braun an. Es ist, nach dem, was Sie mir gesagt haben, sehr wahrscheinlich, daß wir Bruno nicht mehr am Leben finden.

Oswald antwortete nicht. Ein Stöhnen brach aus seiner Brust, wie eines Gefolterten, wenn die Schrauben noch um eine Windung angezogen werden.

Der Doctor hieb auf die Pferde, die nun im Galopp weiter stürmten.

Ein paar Minuten später hielt der Wagen vor dem Portal. Das ganze Schloß schimmerte von Licht. Aus dem Speisesaale rauschte die Musik. Die Diener liefen geschäftig ab und zu.

Als sie in Bruno's Zimmer traten, erhob sich der Baron von dem Bett, über das er gebeugt stand.

Gott sei Dank, daß Sie kommen! sagte er; ich habe schon an vielen Krankenlagern gewacht; so lang aber ist mir keine Stunde geworden!

Er trocknete sich seine Stirn; sein ernstes Gesicht war bleich; er schien auf's Tiefste ergriffen.

Doctor Braun untersuchte den Kranken, dann blieb er neben dem Bett stehen, ohne die Andern anzublicken.

Ist keine Hoffnung?

Keine.

Da richtete sich Bruno halb auf:

Bist Du's Mutter? kommst mich einzulullen? wie geht doch noch die alte Weise?

Und in wunderbar süßen Tönen, leise, ganz leise, wie die Klänge einer Aeolsharfe, begann er ein schwedisches Lied zu singen, wie es ihm wohl seine Mutter vor langen Jahren gesungen haben mochte.

Er lehnte sich wieder in das Kissen zurück. Durch die tiefe Stille im Zimmer tönte nur noch das Schluchzen Oswald's;[616] auch die Augen der beiden andern Männer standen voll Thränen.

Bist Du es, Oswald? fragte Bruno, weshalb weinst Du? guten Abend, Herr Doctor; wie kommen Sie hier her? es geht wohl zu Ende mit mir? Wo ist Baron Oldenburg? Geben Sie mir die Hand. Sie sind sehr gut gegen mich gewesen. Doctor, muß ich sterben so frisch und jung? sagen Sie es mir, ich bin kein Feigling, ich habe es schon seit gestern gewußt; muß ich sterben? – dann, Oswald, eine Bitte: ich will es Dir in's Ohr sagen.

Oswald beugte sich über ihn.

Er erhob sich und ging nach der Thür. Oldenburg war ihm gefolgt.

Ich weiß, was er will! sagte er; er hat in seinen Phantasien schon hundertmal nach ihr verlangt; ich will sie rufen. Es ist ja eines Sterbenden letzte Bitte.

Er entfernte sich, Oswald trat wieder an das Bett.

Kommt sie?

Ja.

Lege mir das Kopfkissen etwas höher, Oswald, und stelle die Lampe dahin, daß der Schein über mich weg gerade auf sie fällt. Danke, so ist es recht.

Sie kommt nicht – doch! war das nicht ihre Stimme? schraube die Lampe tiefer, Oswald – es wird so hell im Zimmer. Helene!

Ein seliges Lächeln flog über sein Gesicht.

Helene! wie bleich Du bist! und doch wie schön! gieb mir die Rose von Deinem Busen! o, weine nicht! Laß mich Deine Hand küssen, Helene!

Helene neigte sich zu ihm und küßte ihn auf den Mund.

Bruno schlang seine Arme um ihren Hals.

Ich liebe Dich, Helene!

Seine Arme glitten auf die Decke zurück. Doctor Braun zog Helene sanft in die Höhe. Er beugte sich über das Bett und lauschte einen Augenblick. Indem er sich wieder aufrichtete, strich er mit der Hand leise über die Augen des Todten.[617]

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 1, Leipzig 1874, S. 602-618.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Prévost d'Exiles, Antoine-François

Manon Lescaut

Manon Lescaut

Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon