Einundzwanzigstes Capitel

[226] In den nächsten acht Tagen waren die letzten Krähen aus den Wäldern in die Stadt gekommen und hatten ihre Winterquartie in den Kirchthürmen bezogen; auch behauptete man in gut unterrichteten Kreisen, daß von den adeligen Familien, die[226] den Winter in Grünwald zu residiren pflegten, keine von einiger Bedeutung mehr draußen sei.

Das regere Leben, das auf einmal in der sonst so stillen Stadt sich bemerklich machte, bewies das zur Genüge. In dem Theater waren jetzt die Prosceniumslogen, die ausschließlich für den Adel reservirt waren, stets gefüllt. Des Nachts wurden die guten Bürger von Grünwald durch das Rollen schnell fahrender Carossen aus ihrem ersten Schlaf aufgeschreckt, und zwölf Stunden später donnerten dieselben Carossen abermals durch die Straßen, da die nächtlichen Ruhestörer um diese Zeit ausgeschlafen hatten und das Bedürfniß fühlten, einander nach so langer Zeit wieder zu sehen und ihre Ansichten über die interessanten Ereignisse der letzten Ballnacht, – wie oft der junge Graf Grieben mit dem jüngsten Fräulein von Nadelitz getanzt, und welch' sonderbaren Kopfputz die alte Baroneß Renzien aufgehabt habe – gegenseitig auszutauschen.

Gestern war bei Griebens großer Ball gewesen; auf morgen hatten Grenwitzens zu einer Soirée – der ersten, die sie in dieser Saison gaben – invitirt. Da die Etiquette erforderte, daß man sich nach einer Gesellschaft und ebenso vor einer Gesellschaft nach dem Befinden der betreffenden Gastgeber erkundigte, so mußten heute bei Griebens und bei Grenwitzens Visiten gemacht werden. Das Rollen der Carossen wollte deshalb heute Mittag kein Ende nehmen.

Wenn Visiten in größerer Zahl zu erwarten standen, waren im Hôtel Grenwitz die sonst verschlossenen Empfangszimmer nach vorn heraus geöffnet. So auch heute. Ein Dutzend Visiten waren schon abgefertigt, ein anderes Dutzend wurde noch erwartet. Es befand sich augenblicklich Niemand im Salon, als die Baronin und der Baron. Sie hatten eben die Frau von Nadelitz mit ihren drei Töchtern unter Lächeln und Scherzen zum Salon hinauscomplimentirt; aber die Thür hatte sich kaum hinter jenen Damen geschlossen, als der alte Herr sich mit der Miene äußerster Verdrossenheit in einen Lehnstuhl fallen ließ und Anna-Marie sich ihm gegenüber auf das Sopha setzte mit einem Gesicht, von dem jede leiseste Spur[227] von Lächeln hinter Wolken tiefsten Unmuths verschwunden war. Augenscheinlich hatte, ehe der Besuch kam, zwischen ihnen eine unerquickliche Scene stattgefunden, und es handelte sich jetzt darum, wer von Beiden zuerst den unterbrochenen Dialog wieder aufnehmen würde.

Diesmal war es gegen die Gewohnheit, daß der alte Herr, der mit nervöser Erregung aus seiner goldenen Tabaksdose eine Prise nahm, den Deckel zuklappte und sodann, als ob ihm Anna-Maria eben jetzt und nicht bereits vor einer halben Stunde das Stichwort gebracht hätte, sagte:

Bleiben? es muß doch Alles einmal ein Ende nehmen – wir können doch Helene nicht für ewig bei Fräulein Bär lassen.

Ich bin es nicht gewohnt, erwiderte Anna-Maria, ihre Stickerei zur Hand nehmend, heute so zu sprechen und morgen so. Andere Leute mögen anders darüber denken. Wir würden uns vor aller Welt lächerlich machen, wenn wir Helene nach vier Wochen wieder in's Haus nähmen.

Es sind beinahe sechs Wochen, brummte der Baron.

Vier oder sechs, das bleibt sich gleich.

Für mich nicht; ich bin ein alter Mann, ich kann morgen sterben.

Das sagst Du schon seit zehn Jahren.

Wenn ich es seit zehn Jahren sage, erwiderte der Baron mit vor Aufregung zitternder Stimme, so ist es, weil ich mich seit zehn Jahren noch keinen Tag gesund gefühlt habe. Und einmal wird doch der Morgen kommen, wo ich nicht mehr bin, und deshalb möchte ich meine Tochter so bald als möglich wieder um mich haben.

Nach Deinem Sohn fragst Du nichts; ob Malte krank oder gesund ist, das kümmert Dich nicht. Und doch ist es Malte, auf dem alle unsere Hoffnungen ruhen. Du solltest Gott danken, daß Du einen Sohn hast, auf den das Majorat forterben kann; statt dessen ist es Helene und immer wieder Helene, um die sich bei Dir Alles dreht.

Ich danke Gott, daß ich einen Sohn habe, und danke Dir, daß Du mir einen Sohn geboren hast, nicht aber deshalb, weil[228] er mein Erbe, sondern weil er mein Fleisch und Blut ist, das ich lieben kann, wie meine Tochter auch. Was das Majorat anbetrifft, so kennst Du meine Ansicht darüber seit langer Zeit. Ich verabscheue ein Institut, das nur dazu dient, Zwietracht in der Familie zu säen.

Der Baron nahm abermals eine Prise, augenscheinlich in der Absicht, sich zu beruhigen. Doch schien das Mittel diesmal die entgegengesetzte Wirkung zu haben, denn er fuhr nach dieser Unterbrechung mit noch größerer Heftigkeit fort:

Weshalb hast Du Deine Tochter durchaus an Felix verheirathen wollen? weil Felix möglicherweise einmal Majoratsherr wird! Weshalb protegirst Du Felix? weil er möglicherweise einmal Majoratsherr wird! Weshalb muß ich Felix um mich sehen, den ich nicht leiden kann, und meine Tochter entbehren, die ich liebe? weil Felix möglicherweise Majoratsherr wird.

Wiederhole Dich nicht so oft, lieber Grenwitz, sagte Anna-Maria mit einer Ruhe, die mit den rothen Flecken auf ihren Wangen und dem stechenden Blick ihrer großen, grauen Augen nicht recht harmonirte; und ereifere Dich überhaupt nicht ganz unnöthigerweise so sehr; Du wirst Deinen Husten wieder bekommen. Du kannst, Gott sei Dank, nichts daran ändern. Was aber mich anbetrifft, so erlaube, daß ich anders darüber denke und daß ich nach dieser Seite hin thue, was ich für meine Pflicht halte. Wenn Du gegen Deine Kinder keine Pflichten hast, ich habe welche. Wenn Du Deine Tochter wo möglich dem ersten besten Abenteurer gäbst, der sie haben will, oder den sie haben will – Du brauchst nicht ungeduldig mit Deinem kranken Fuß zu stampfen und Du wirst Deinen Tabak auf den Teppich schütten, wenn Du so heftig mit der Dose auf die Lehne klopfst – ich sage, wenn Dir es gleichgiltig ist, wen Helene heirathet, mir ist es nicht gleich. Ich habe die Heirath mit Felix befürwortet, nicht aus Eigensinn, den ich andern überlasse, sondern weil ich die Heirath für eine gute Partie hielt, für die beste, die ein Mädchen ohne Vermögen machen kann. Wie wenig eigensinnig ich bin, kannst Du schon daraus sehen,[229] daß ich seit Felix' Unfall und seit der Doctor ihn für schwindsüchtig hält, durchaus nicht mehr so sehr für die Heirath bin. Im Gegentheil, sobald es sich als sicher herausgestellt haben sollte, daß Felix nur noch kurze Zeit zu leben hat, so werde ich die Erste sein, die ihn fallen läßt, um so mehr, als von ihm nur Schulden zu erben sind.

Der alte Herr schien durch diesen kaltblütigen Egoismus nichts weniger als angenehm berührt. Er hatte, wie schon oft in der letzten Zeit, ein dunkles Gefühl davon, daß seine Gattin eigentlich ein sehr schlechtes Herz habe, und er seufzte tief.

Sei wenigstens gut gegen sie, wenn sie heute Morgen uns zu besuchen kommt, sagte er plötzlich, nachdem er einige Minuten in dumpfem Brüten dagesessen hatte.

Ich habe noch stets gewußt, was ich zu thun habe, antwortete die Baronin, von ihrer Arbeit aufblickend und die Augenbrauen in die Höhe ziehend; ich werde es auch in diesem Falle wissen.

Der Baron war durch diese Versicherung innerlich keineswegs beruhigt. Aber bevor er für seine Bedenken die rechten Worte gefunden hatte, öffnete der Bediente die Thür und meldete:

Herr und Frau von Barnewitz.

Haben wir endlich das Vergnügen? sagte Anna-Maria, mit dem huldvollen Lächeln, das sie für solche Gelegenheiten, stets bereit hatte, den Eintretenden ein paar Schritte entgegengehend.

Ganz auf unserer Seite, gnäd'ge Frau! rief der Fuchsjäger, der Baronin die magere Hand küssend; ganz auf unserer Seite. Konnten, bei Gott, nicht früher. Gestern Mittag angekommen; gestern Abend bei Grieben's. Schade, daß Sie nicht da waren; famos, sage ich Ihnen, beinahe so gut amüsirt, wie auf der letzten Treibjagd. Meine Frau hat sich ennuyirt; hatte keinen rechten Anlauf. Leute ennuyiren sich immer, wenn sie keinen Anlauf haben.

Sie müssen Karl's Ausdrucksweise entschuldigen, sagte Hortense, bei der Baronin auf dem Sopha Platz nehmend; er[230] hat in den letzten sechs Wochen fast ausschließlich mit seinen Reitknechten und Förstern verkehrt.

Und mit Dir, mein Schatz, nicht zu vergessen! rief Herr von Barnewitz überlaut lachend. Na, Hortense, brauchst nicht so bös zu werden. Ein Scherz muß unter Eheleuten erlaubt sein.

Wie sieht es denn bei uns aus? fragte Anna-Maria, der Unterhaltung eine andre Wendung zu geben.

O, es geht; sagte Herr von Barnewitz. Das Winterkorn steht im Allgemeinen gut; stellenweise haben die Mäuse Schaden gethan. Der Sommer war gar zu heiß. Ich denke, daß die Nässe sie jetzt ein bischen mürbe machen wird. A propos Nässe, Grenwitz! Wir müssen die Grabenangelegenheit endlich einmal reguliren. Wir ersaufen sonst, bei Gott, gelegentlich noch alle miteinander. Ich habe vor einigen Tagen auch mit Oldenburg gesprochen. Er gehört durch sein Vorwerk Cona mit zu unserer Feldmark. Er war auch der Meinung, daß die Sache wo möglich noch in diesem Herbst in Angriff genommen werden müßte.

Ei, seit wann bekümmert sich denn der Baron um die Landwirthschaft? Das ist ja ganz was Neues, sagte Anna-Maria.

Ganz was Neues, gnäd'ge Frau, bestätigte Herr von Barnewitz, das Allerneueste, seitdem er von seiner letzten Reise zurück ist; also ungefähr seit vierzehn Tagen. Ich glaube, er schnappt nächstens über.

Oder heirathet Ihre Cousine Melitta, sagte die Baronin lächelnd.

Sollte das nicht auf dasselbe herauskommen? warf Hortense dazwischen.

Aber, liebe Hortense, wer wird so satyrisch sein! sagte die Baronin, der spottsüchtigen Blondine schalkhaft mit dem Zeigefinger drohend.

Bist eifersüchtig, Schatz; bist eifersüchtig! rief Herr von Barnewitz; hast ihr stets ihre Pousseurs beneidet, weil sie immer an jedem Finger einen hatte![231]

Es ist eine rechte Kunst, von den Herren gefeiert zu werden, wenn man kein Mittel der Koketterie unbenutzt läßt, sagte Hortense, ihre Mantille so weit fallend lassend, daß ihre weißen Schultern zum Vorschein kamen.

Na, so schlimm ist sie nun auch nicht, meinte der Gatte.

Hortense zuckte die weißen Schultern.

Schlimm ist ein relativer Begriff. Melitta hat in ihrem Leben so viel Anlaß zum Skandal gegeben, daß man es bei ihr allerdings nicht so genau nimmt.

Dasselbe dürfte aber auch bei Baron Oldenburg der Fall sein, meinte Anna-Maria.

Möglich, sagte Hortense; ich kenne Oldenburg nicht näher –

Hier mußte der Fuchsjäger nothwendig sein Taschentuch ziehen und sich mit großem Geräusch schnäuzen.

Nicht näher, wiederholte Hortense, die irgend eine mysteriöse Verbindung zwischen ihren Worten und dem Schnäuzen ihres Gemahls entdecken mußte, mit Nachdruck: aber wenn er sich über Melitta's letzte Affaire wegsetzen kann, so muß er allerdings – viel vertragen können.

Letzte Affaire? sagte Anna-Maria, ihre Augenbrauen in die Höhe ziehend; ei, ei! das ist ja das Erste, was ich höre. –

Geschwätz, gnäd'ge Frau, Geschwätz; sagte Barnewitz, der sich erinnerte, daß Melitta seine leibliche Cousine sei, und daß er als Junge von siebzehn Jahren das schöne zwölfjährige Mädchen angebetet hatte; nichts als Geschwätz von einigen alten Kathenweibern.

Alte Kathenweiber haben oft noch recht unbequem scharfe Augen, bemerkte Hortense mit einem aufmerksamen Blick nach den Stuck-Ornamenten der Zimmerdecke.

Sie machen mich in der That neugierig, sagte Anna-Maria, sich in ihrer Sophaecke zurechtrückend.

Es ist dummes Zeug, gnäd'ge Frau, ich versichere Sie, sagte Barnewitz ärgerlich. Ein paar alte Weiber aus unserm Dorfe, die Nachts im Berkower Forst Holz stahlen – ich[232] wüßte sonst nicht, was sie um die Zeit da zu thun hätten – erzählen, daß Melitta in ihrem Waldhäuschen heimliche Zusammenkünfte mit Gott weiß wem? gehabt hat.

Das ist ja eine sehr pikante Geschichte, sagte Anna-Maria.

Ja, und sie wird noch dadurch pikanter, sagte Hortense, die unverwandt die Augen nach der Decke gerichtet hielt, daß der glückliche Gott weiß wer? stets auf dem Wege von Grenwitz gekommen ist und sich auf demselben Wege wieder entfernt hat.

Anna-Maria's Augen wurden bei dieser Nachricht so groß, wie sie überhaupt werden konnten.

Wann soll dies geschehen sein? fragte sie streng. Ich will nicht hoffen –

O, beunruhigen Sie sich nicht! unterbrach sie Hortense; Felix ist erst sehr viel später gekommen. Es war um die Zeit, als wir den Ball gaben und Oldenburg, der mit Karl die Tischzettel vertheilte, meine Cousine von Ihrem Doctor Stein zu Tisch führen ließ und ihn hernach in seinem Wagen nach Hause brachte; – eine rührende Aufmerksamkeit, die in diesem Fall etwas unwiderstehlich Komisches hat; ebenso wie die Wärme, mit der sich Oldenburg hernach Herrn Stein's annahm, als ihr Neffe Felix die fatale Geschichte mit ihm hatte! O, es ist wirklich zu lustig! Aber das muß man meiner Cousine lassen, sie versteht's unter ihren – Freunden Freundschaft zu stiften.

Der alte Baron hatte während dieser Unterhaltung schweigend und, wie es schien, vollkommen theilnahmlos dagesessen. Um so mehr überraschte die Heftigkeit, mit der jetzt, den grauen Kopf unwillig schüttelnd, sagte:

Frau von Berkow ist eine liebe Dame, die ich schätze; Baron Oldenburg ist ein Ehrenmann; ich habe ihn stets und kürzlich, als ich in wichtigen Geschäften mit ihm zu thun hatte, als solchen kennen gelernt. Es thut mir weh, meine Herrschaften, daß ich Sie in dieser harten und lieblosen Weise sprechen höre – sehr weh! sehr weh![233]

Und der alte Mann zitterte vor innerer Erregung so, daß er die Prise, die er zwischen den Fingern hatte, kaum zur Nase führen konnte.

Von Barnewitz nickte mit dem Kopfe, als ob er sagen wollte: der Alte hat so Unrecht nicht; aber Hortense war nicht in der Laune, die verdiente Zurechtweisung geduldig hinzunehmen.

Lassen Sie sich das nicht so unlieb sein, Herr Baron, erwiderte sie höhnisch; Sie wissen, daß der Name dieses Herrn Stein auch noch sonst eine gewisse Berühmtheit in der Chronik dieses Sommers erlangt hat. Je öfter man denselben also mit meiner Cousine zusammennennt, desto seltener kann man ihn mit den Namen anderer Damen in Verbindung bringen.

Es war ein Glück für den alten Herrn, daß er diese auf Helene gemünzte Anspielung nicht verstand, da es ihm nie auch nur im entferntesten in den Sinn gekommen war, seine Tochter habe zu dem Streit zwischen Oswald und Felix die Veranlassung gegeben.

Indessen mochte Hortense doch fühlen, daß sie zu weit gegangen sei. Sie beeilte sich deshalb zu bemerken, es sei schon sehr spät, und wollte sich eben zum Fortgehen erheben, als ein neuer Besuch gemeldet wurde, der zum Bleiben zwang. Es sollte Niemand als Hortense von Barnewitz sagen, daß sie einer Nebenbuhlerin das Feld geräumt habe. Und das war in mehr als einer Hinsicht Emilie von Cloten, die so eben ihrem Gatten voran in den Salon rauschte.

Emilie war seit vierzehn Tagen verheirathet. Sie hatte es vorgezogen, keine längere Hochzeitsreise zu machen, als von dem Gute ihrer Eltern, wo die Vermählung stattgefunden hatte, nach Grünwald. Sie wollte den Anfang der Saison nicht versäumen. Sie durstete, auf dem Schauplatz ihrer nächsten Triumphe zu erscheinen, um von vornherein jede Concurrenz unmöglich zu machen. Emilie von Breesen wollte nicht umsonst Frau von Cloten geworden sein, nicht umsonst die Frau eines Mannes, mit dem sie sich in einer eifersüchtigen Laune verlobt, den sie aus purer Caprice geheirathet hatte.[234]

Der Erfolg den sie auf den ersten Bällen dieser Saison gehabt, entsprach ihren kühnsten Hoffnungen. Sie sah die Männerwelt zu ihren Füßen, und das Bewußtsein der Macht ihrer Reize war ein vortreffliches Relief ihrer koketten Schönheit. Siegesgewißheit strahlte aus ihren mandelförmigen, grauen Augen, Siegesgewißheit lächelte schalkhaft aus den Grübchen ihrer rosigen Wangen; Siegesgewißheit verkündete selbst das Rauschen ihres langen, seidenen Kleides und das Winken und Nicken der weißen Straußenfeder auf dem reizenden Hütchen von schwarzem Sammet, unter dem das hellbraune glänzende Haar in üppigen Flechten hervorquoll.

Herr von Cloten seinerseits schien schon angefangen zu haben, das hohe Glück, der Gemahl einer so glänzenden Dame zu sein, einigermaßen problematisch zu finden. Er hatte um die Augen herum ein ganz klein wenig von dem Ausdruck einer Truthenne, die sich Wochenlang über der Hoffnung des Glücks, dermaleinst junge, anständige Truthühner auf dem Hofe spazieren führen zu können, halb blödsinnig gesessen und geträumt hat, und nun plötzlich ihre Brut als wilde, übermüthige Entlein auf den Teich hinausschwimmen sieht. Wer ihn früher gekannt hatte, mußte die Bemerkung machen, daß er seinen blonden Schnurrbart weniger häufig drehte und seine Stimme nicht mehr ganz so selbstgefällig schnarrte. Vielleicht trug zu dieser sichtlichen Verstimmung auch die unerwartete und jedenfalls unerwünschte Begegnung mit seiner treulos und etwas feig verlassenen Geliebten bei, wie umgekehrt dieser selbe Umstand die gute Laune der jungen Frau noch wesentlich zu erhöhen schien. Hatte sie doch das angenehme Bewußtsein, Hortense gestern Abend vollständig verdunkelt zu haben; weshalb sollte sie jetzt bei dem Anblick ihrer Nebenbuhlerin etwas Anderes als innige Freude empfinden? sie mit allen Zeichen herzlichster Freundschaft bewillkommnen und theilnehmend fragen, ob sie ihre Kopfschmerzen von gestern Abend verschlafen habe?

Wie schade, liebe Barnewitz, daß Ihre Migräne Sie zwang, vor dem Cotillon wegzugehen. Ich versichere Sie, es war der reizendste Cotillon, den ich je mitgebracht habe. Fürst[235] Waldernberg – Sie wissen, daß ich mit dem Fürsten den Cotillon aufführte – Max Grieben hatte uns dringend darum gebeten – kannte eine Menge der reizendsten Touren, wie sie auf den Hofbällen in Berlin getanzt werden. Ich sage Ihnen, ein solcher Cotillon ist in Grünwald noch nicht getanzt. Nicht wahr, Arthur, es war zu allerliebst!

O gewiß, gewiß! schnarrte der gehorsame Gatte, der mit der verwachsenen Comtesse Stilow hatte tanzen müssen; ich versichere Sie, meine Herrschaften, es war gottvoll, auf Ehre, gottvoll!

Mir schien die Gesellschaft, offen gestanden, ein wenig gemischt, sagte Hortense, die seit Emiliens Eintreten noch um einige Grade blasirter aussah; ich habe nicht weniger als vier, sage vier, bürgerliche Artillerie-Offiziere gezählt.

Gott, das ist wohl möglich, sagte Emilie; obgleich ich allerdings keine Zeit gehabt habe, sie zu zählen. Ich habe sogar mit einem getanzt – Schulz oder Müller, oder wie er hieß, der nebenbei so ausgezeichnet walzte, wie man es sich nur wünschen kann.

Aber, liebe Emilie, konnten Sie denn das nicht vermeiden? fragte Hortense, ihre Mantille in die Höhe ziehend.

Ganz dieselbe Frage, die Fürst Waldernberg an mich stellte. Durchlaucht, antwortete ich, ich schwärme gerade auch nicht für die Artillerie; aber ich tanze doch noch lieber mit einem Bürgerlichen, als daß ich sitzen bleibe.

Die Erwähnung eines Unglücks, welches Hortense gestern Abend zweimal begegnet war, versetzte die genannte Dame in eine Aufregung, welche die zarte Rosaschminke auf ihren Wangen vollständig überflüssig machte. Sie wollte eben die Thorheit begehen, durch eine heftige Antwort zu verrathen, wie sicher sie der von Emilien geschleuderte vergiftete Pfeil getroffen hatte, als der Bediente »Herr und Frau Professor Jäger« meldete.

Der Mann war so wohl geschult, daß er diesmal nicht, wie sonst, die Gemeldeten sogleich in's Zimmer ließ, sondern[236] die Thür hinter sich schloß und, der weiteren Befehle seiner Herrschaft gewärtig, kerzengrade an derselben stehen blieb.

Sie erlauben, meine Herrschaften, sagte Anna-Maria in entschuldigendem Tone, zu der übrigen Gesellschaft gewandt, daß ich Herrn und Frau Professor Jäger empfange? Die Leute haben sich stets treugesinnt und ihrer Stellung bewußt gezeigt. Ich halte es für unsere Pflicht, dergleichen Menschen zu protegiren.

Auf einen Wink der Gebieterin entfernte sich der Bediente, und alsobald erschienen der Fragmentist und die Dichterin, unter tiefen Verbeugungen, die von der adligen Gesellschaft mit kaum merklichem Kopfnicken erwidert wurden. Nur der alte Baron erhob sich, schüttelte Beiden die Hand und hieß sie in seiner ungeschminkten, herzlichen Weise willkommen.

Primula blickte etwas verschüchtert aus den blauen Kornblumen, mit denen ihr Hut garnirt war, hervor, während der Herausgeber des Chrysophilos mit gekrümmtem Rücken heran trat, der Baronin die huldvoll dargebotene Hand küßte, sich dann tief vor den beiden anderen Damen, nicht ganz so tief vor den Herren verbeugte, und sich nach einigem Zögern auf den Rand eines Stuhls, der etwas außerhalb des Kreises stand, setzte, den Kopf auf die rechte Seite geneigt, harrend, ob Jemand sich gemüßigt fühlen würde, ihn mit einer Frage zu beehren.

Das Gespräch der Herrschaften drehte sich eben um ein höchst interessantes Thema, um die Person Sr. Durchlaucht, des Premierlieutenants Fürsten Waldernberg, der vor einigen Wochen von seinem Garderegiment in der Residenz nach dem in Grünwald garnisonirenden Linienbataillon abcommandirt, und von dem ersten Augenblick seines Auftretens der Löwe des in der Stadt versammelten Landadels geworden war.

Ich möchte nur wissen, weshalb er eigentlich abcommandirt ist, sagte von Cloten. Felix, mit dem ich gestern über ihn sprach – à propos, gnäd'ge Frau, es ist sehr gut, daß Felix das Zimmer hütet, er sieht wirklich recht schlecht aus; – Felix meint, der Fürst werde wohl wieder einen Ehrenhandel gehabt[237] haben; er soll der leidenschaftliche Mensch sein, der sich denken läßt.

Gott, Arthur, sagte Emilie, Du sprichst, als ob Leidenschaft ein Verbrechen wäre; ich wollte, es hätte Mancher mehr davon.

Sind die Waldernbergs nicht slavischer Abkunft? fragte Hortense; mir däucht, der Fürst sieht wie ein Mongole aus.

O, Sie haben ihn nicht wie ich in der Nähe betrachtet, liebe Barnewitz, sagte Emilie; er ist einer der schönsten Männer, die ich je gesehen habe, und er tanzt wie ein Gott.

Ich glaube, daß die Waldernbergs eine ursprünglich polnische Familie sind, meinte Anna-Maria.

Bewahre, gnäd'ge Frau! rief von Cloten, rein germanisch, auf Ehre, rein germanisch.

Ich bin überzeugt, daß uns Professor Jäger darüber etwas Genaueres mittheilen kann, sagte die Baronin, sich mit huldvollem Lächeln zu dem Gelehrten wendend.

Allerdings, meine Gnädigste; rief dieser, froh, eine Gelegenheit zum Auskramen seines Wissens gefunden zu haben; allerdings, es hat mir stets bei meinen historischen Studien ein ganz besonderes Vergnügen gewährt, den Genealogien der adligen Geschlechter nachzuforschen, und so habe ich denn auch der Geschichte der Familie Waldernberg, die in vieler Hinsicht eine sehr interessante ist, eine besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Die Waldernbergs sind, wenn meine Gnädigste mir diese Berichtigung verstatten will, in der That rein germanischer Abkunft. Sie stammen ursprünglich aus Franken und sind erst mit dem deutschen Orden nach Preußen gekommen. In späterer Zeit haben sie sich allerdings mit polnischen adligen Familien vielfach verschwägert, wie sie denn außer in der Lausitz, wo die Stammherrschaft Waldernberg liegt, in russisch Polen reich begütert sind. Auch der jetzige Fürst hat Beides, sarmatisches und germanisches Blut in seinen Adern. Seine Mutter, die Frau Fürstin Stephanie Letbus aus dem Hause Waldernberg vermählte sich im Jahre achtzehnhundertzweiundzwanzig in Petersburg, wo sie seit ihrer frühesten Jugend[238] residirt hatte – ich erwähnte schon vorhin, daß ein Theil der Besitzungen in Rußland liegt – mit dem Grafen Constantin Malikowsky, dem letzten Sprossen einer ehemals sehr reichen und mächtigen, später aber verarmten polnischen Familie. Der Kaiser Alexander, der, wie man sagt, nach beiden Seiten hin Verpflichtungen hatte, (hier lächelte der Professor ein schüchternes Lächeln) sowohl gegen die junge Fürstin, die Hofdame bei der Kaiserin war, und sehr schön gewesen sein soll, als auch gegen den Grafen, dessen Familie hauptsächlich durch russische Güterconfiscationen ruinirt war, soll die Heirath zu Stande gebracht haben, obgleich der Ruf des Grafen – die gnädigen Herrschaften verzeihen die Wahrhaftigkeit des historischen Forschers – einigermaßen, wie soll ich gleich sagen? anrüchig war. Cavaliere müssen sich austoben – das versteht sich; aber Graf Malikowsky hat es vermuthlich ein wenig zu arg getrieben. Wie dem auch sei – aus der Ehe des Grafen Constantin Malikowsky mit der Fürstin Stephanie Letbus stammt der Fürst, der bis vor wenigen Jahren in russischen Diensten stand, dann, als mit dem letzten Fürsten Waldernberg der Mannesstamm der Familie ausstarb und die Herrschaft Waldernberg als erledigtes Lehen an die Krone fiel, durch die Gnade seiner Majestät successionsfähig erklärt wurde und als gefürsteter Graf von Malikowsky-Waldernberg – sein ganzer Name ist, wie den gnädigen Herrschaften vielleicht noch nicht bekannt ist: Raimund, Gregorius, Stephan, gefürsteter Graf von Malikowsky-Waldernberg, Erbherr von Letbus – in unsere Dienste trat.

Die Gesellschaft war mit der tiefsten Aufmerksamkeit dem genealogischen Vortrag des gelehrten Professors gefolgt, mit derselben Aufmerksamkeit ungefähr, mit welcher eine Gesellschaft gewöhnlicher Krähen dem Bericht einer Eule über die Abstammung eines Kolkraben, der von einem Flügelende bis zum andern fünf Schuh mißt, zuhören würde. In das andächtige Schweigen ertönte urplötzlich die Stimme des Bedienten, der die Thür aufriß und in das Zimmer schrie:

Sr. Durchlaucht, der Fürst von Waldernberg.[239]

Die Meldung des Bedienten elektrisirte die im Salon versammelte Gesellschaft. Im nächsten Augenblick standen Alle ohne Ausnahme kerzengrade vor ihren Stühlen, die erwartungsvollen Blicke starr nach der Thür gerichtet, durch deren weit ausgesperrte Flügel der Fürst so rasch hereintrat, daß Anna-Maria ihm nicht ganz die drei Schritte, welche die Etiquette erheischte, sondern nur einen und einen halben vom Sopha aus entgegen gehen konnte.

Sie haben die Güte gehabt, Madame, sagte der Fürst im reinsten Französisch, indem er der Baronin leicht die Hand küßte, mir mit einer Einladung zuvorgekommen, bevor ich Gelegenheit hatte, mich dieser Aufmerksamkeit würdig zu machen. Verstatten Sie mir, daß ich versuche, das Versäumte nachzuholen.

Ein Versuch, mein Fürst, antwortete Anna-Maria mit ihrem huldvollsten Lächeln, ebenfalls auf französisch, der bei einem Cavalier, wie Sie, des Erfolges sicher ist. Erlauben Sie, daß ich Ihnen die Gesellschaft vorstelle. – Der Baron, mein Gemahl – Herr und Frau von Barnewitz – Herr und Frau von Cloten –

Ich habe bereits die Ehre – sagte der Fürst lächelnd.

Professor Jäger – ein vortrefflicher Gelehrter und treuer Freund unseres Hauses; Frau Professor Jäger, eine Dame, deren poetisches Talent Aufmunterung verdient.

Der Fürst verbeugte sich gegen jede der ihm vorgestellten Personen mit Würde und Höflichkeit, und gab, indem er neben Anna-Maria auf einem Lehnsessel Platz nahm, das Signal zum Niedersitzen.

Der Fürst und die Baronin nahmen die Kosten der Unterhaltung im Anfang fast ausschließlich auf sich, bis es Hortense gelang, sich durch eine dazwischen geworfene Bemerkung des Wortes zu bemächtigen und es eine Zeit lang zu behaupten, zum größten Aerger Emiliens, die ihrer Gegnerin diesen Triumph unbestritten lassen mußte, da sie sehr mangelhaft französisch sprach und der rapiden Rede der Nebenbuhlerin kaum zu folgen vermochte. Hortense, welche Emiliens[240] Schwäche kannte, trieb die Bosheit sogar so weit, sich alle Augenblicke mit einem qu'en dites vous, chère amie? n'est ce pas, Emilie! an sie zu wenden und sie so zu Antworten zu zwingen, die mindestens in der Form sehr viel zu wünschen ließen. Der ältern der beiden Damen gewährte dieser Triumph über ihre jüngere Rivalin ein Vergnügen, das sich zum Entzücken steigerte, als der Fürst Emilie zuletzt kaum noch beachtete und sich ganz dem Reiz von Hortense's pikanter Unterhaltung hingab.

Indessen war Emilie zu keck und leichtsinnig, um sich durch eine momentane Niederlage um ihren guten Humor bringen zu lassen. Der Fürst war, obgleich sie ihn vorhin, ihre Nebenbuhlerin zu ärgern, so gerühmt hatte, gar nicht nach ihrem Geschmack, und wenn er nicht, wie er es gestern den ganzen Abend gethan, deutsch mit ihr sprechen wollte, so mochte er es bleiben lassen. Sie hatte schon während der ganzen Visite eine Gelegenheit erspäht, mit Frau Professor Jäger in's Gespräch zu kommen, von der sie vermuthete, daß sie ihr Nachricht von Oswald, den sie seit dem letzten Zusammentreffen neulich Abend nicht wieder gesehen hatte, geben könne. So benutzte sie denn jetzt den günstigsten Augenblick, wo der Fürst sich mit Hortense und der Baronin, der Baron mit dem Professor, und von Barnewitz mit ihrem Gemahl unterhielt, um sich bei Primula nach dem jungen Manne, der im Sommer bei Grenwitzens Hauslehrer war, Fels glaube ich, oder Berg, oder wie er sonst hieß, zu erkundigen, da eine ihr bekannte Familie einen Erzieher suche. Emilie hatte sich nicht geirrt; Primula konnte über Herrn Stein – nicht Fels, obgleich er ein Felsenherz hat, nicht Berg, obgleich er berghoch über anderen Männern steht, – ganz genaue Auskunft geben. Er komme fast alle Tage zu ihr (Oswald war einmal dagewesen); er sei wie ein Kind im Hause und ihr in treuer Freundschaft ebenso verbunden, wie im gleichen Streben nach dem Höchsten. Sie glaube freilich nicht, daß Oswald jetzt eine Stelle annehmen werde, da er in den »dumpfen Banden der Schule schmachte,« indessen sie wolle ihm das Anerbieten mittheilen.[241]

Thun Sie das lieber nicht, beste Frau Professor, sagte Emilie nach kurzem Bedenken; Sie wissen, daß Herr Stein – wie konnt' ich doch den Namen vergessen! – nicht ganz friedlich aus unserem Kreise geschieden ist. Er möchte das Anerbieten, wenn es ihm so gebracht wird, ohne weiteres zurückweisen. Können Sie nicht – wie machen wir das nur? – ja! so geht's! Können Sie es nicht so einrichten, liebe Frau Professor, daß ich, wie zufällig, einmal mit Herrn Stein bei Ihnen zusammentreffe! Ich habe so schon lange den Wunsch gehabt, einmal den Arbeitstisch der Dichterin der »Kornblumen« zu sehen!

Sie entzücken mich durch Ihre Güte, rief Primula, ich kann nur, wenn Sie wirklich in meine einfache Hütte treten wollen, mit dem Zeus der getheilten Erde sprechen: so oft Du kommst, sie soll Dir offen sein.

Emilie war so in dies interessante Gespräch vertieft, daß sie ihr Gemahl daran erinnern mußte, die Gesellschaft sei im Begriff aufzubrechen. Der Fürst hatte sich erhoben; die Andern waren seinem Beispiel gefolgt.

Madame, sagte der Prinz, j'ai l'honneur – das Wort erstarb ihm auf den Lippen, denn ihm gegenüber in einem hohen Wandspiegel erschien plötzlich die Gestalt eines wunderschönen Mädchens, das eben, ohne vom Bedienten angemeldet zu werden, in den Salon getreten war. Er wandte sich fast erschrocken und nun trat mit einer tiefen Verbeugung bei Seite, der jungen Dame Platz zu geben, damit sie zur Baronin gelangen könnte.

Die Allen, mit Ausnahme des Barons und der Baronin unerwartete Erscheinung Helenens überraschte und interessirte Jeden in seiner Weise. Nur der Fürst, der sie heut zum ersten Male sah, wußte nichts von dem Zwist, in der Familie; für die Andern war die Grenwitzer Katastrophe schon seit Wochen ein mit Eifer, Gründlichkeit und Scharfsinn nach allen Seiten hin ventilirtes Thema der Unterhaltung gewesen; und in Folge dessen diese erste Begegnung der Tochter und der Eltern das fesselndste Schauspiel. Indessen, wenn man etwas Außerordentliches[242] erwartet hatte, so sah man sich getäuscht. Der Baron, der Helene entgegen gegangen war und sie auf die Stirn geküßt hatte, verrieth allerdings einige Erregung; aber Mutter und Tochter begrüßten sich mit einer höflichen Kälte, die der Neugier und Skandalsucht der versammelten Geberdenspäher und Geschichtenträger sehr wenig Stoff bot.

Ah, guten Tag, liebes Kind, sagte die Baronin auf französisch, Helenen ebenfalls, aber sehr flüchtig auf die Stirn küssend, Du kommst ja zu recht gelegener Zeit. Erlauben Sie, mein Fürst, daß ich Ihnen meine Tochter Helene präsentire. – Seine Durchlaucht, der Fürst von Waldernberg, liebe Tochter.

Helene erwiderte ruhig die tiefe Verbeugung des Fürsten, und wandte sich dann zu Emilie von Cloten, von der sie mit großer Herzlichkeit bewillkommnet wurde. Emiliens schnellem Blick war der Eindruck nicht entgangen, welche die hinreißende Schönheit Helenens auf den Fürsten gemacht hatte. Mochte doch der Fürst bewundern, wen er wollte, wenn nur Hortense um ihren Triumph kam.

O, wie reizend, rief sie, Helene umarmend, daß Du Dich einmal sehen läßt. Ich wollte schon alle Tage zu Dir kommen; wir haben uns ja eine Welt zu erzählen! Und sie faßte die Freundin bei beiden Händen und zog sie ein paar Schritte fort, um mit leiserer Stimme zu sagen: Du, der Fürst ist weg, totalement weg! er verwendet keins seiner schwarzen Augen von Dir. Wenn Du ihn haben willst, ich will ihn Dir lassen. Er tanzt sehr schön, aber er ist nicht mein Genre. Muntre ihn ein wenig auf; die Barnewitz ärgert sich so darüber! Denke Dir, die alte Kokette will noch immer die erste Rolle spielen, trotzdem sie sich jetzt selbst die Adern blau schminkt und gestern bei Griebens zweimal sitzen geblieben ist. Wie geht es Dir bei der Bärin? und à propos: hast Du nichts von Oswald Stein gehört? Gott, ich werde den Abend bei Euch nicht vergessen! Wir kamen mit unserer Warnung zu spät, aber er hat sich gut herausgerissen. Selbst Arthur sagt, er habe sich ganz wie ein Cavalier gehalten. Dreh' Dich nicht um, der Fürst[243] kommt hierher. Er wird Dich auf morgen zum ersten Walzer engagiren wollen. Er tanzt trotz seiner Hünengestalt wundervoll.

Die schlaue Emilie hatte ganz recht gehabt. Der Fürst hatte in der That, während er sich noch immer mit der Baronin unterhielt, fortwährend nach Helene hinübergeblickt und so zerstreut geantwortet, wie Jemand, dessen Gedanken ganz wo anders sind, zu antworten pflegt. Plötzlich unterbrach er eine glänzende Phrase Anna-Maria's mit der Frage, ob morgen getanzt würde? und ob er in diesem Falle die Erlaubniß habe, Fräulein von Grenwitz um einen Tanz zu bitten? Als beide Fragen mit einem huldvollen oui, monseigneur! beantwortet wurden, trat er mit einer Verbeugung zu den jungen Damen heran.

Ich bitte um Verzeihung, sagte er auf Deutsch, wenn ich die Damen in Ihrer Unterhaltung störe. Aber ich kann nicht fortgehen, ohne wenigstens den Versuch gemacht zu haben, mich für morgen eines Tanzes zu versichern. Darf ich hoffen, gnädige Frau? werde ich die Ehre haben, mein gnädiges Fräulein?

Emilie und Helene verneigten sich, und der Fürst verabschiedete sich darauf mit einer Eile, die deutlich bewies, daß ihn nur die Erledigung dieses wichtigen Punktes noch gehalten hatte.

Der Ausbruch Seiner Durchlaucht war für die übrige Gesellschaft, welche nur darauf gewartet hatte, das Signal, sich ebenfalls zu verabschieden, zu großer Zufriedenheit der Kutscher und Bedienten unten auf der Straße, die, ebenso wie ihre Pferde, anfingen, nachgerade ungeduldig zu werden.

Die Equipagen waren davongerollt. Das Empfangszimmer im Hotel war wieder leer bis auf den Baron und die Baronin; Helenen hatten Clotens in ihrem Wagen mitgenommen. Der unterbrochene Dialog konnte wieder aufgenommen werden. Aber es geschah nicht. Der alte Mann fühlte sich zu angegriffen, und bei Anna-Maria war die Frage: ob Helene in der Pension bleiben solle, oder nicht? in ein ganz neues Stadium[244] getreten, seitdem – und das war seit zehn Minuten ungefähr – ihrem ehrgeizigen Kopfe der Gedanke gekommen war, ob es nicht doch, Alles in Allem, besser sei, sich wieder mit ihrer Tochter zu versöhnen, die mindestens ebensoviel und vielleicht mehr Aussicht habe, als eine andere junge Dame, Fürstin von Waldernberg-Malikowsky, Gräfin von Letbus zu werden.

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 2, Leipzig 1874, S. 226-245.
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