Sechsundfünfzigstes Kapitel.

[559] »Die ganze Familie ist geistig nicht normal,« dachte die Marschallin. »Wie könnten diese Leute sonst so eingenommen sein von ihrem jungen Abbé, der nichts kann als stumm zuhören, allerdings mit recht hübschen Augen.«

Julian seinerseits erblickte in der Art und Weise der Marschallin geradezu ein Musterbeispiel der souveränen Gemessenheit, die sich in tadelloser Höflichkeit und mehr noch durch völlige Verhüllung des Innenlebens ausspricht. Unerwartete Bewegungen, Mangel an Selbstbeherrschung, Sich-etwas-vergeben vor Leuten von geringerem Stande waren ihr entsetzliche Dinge. Das leiseste Zeichen von Rührung hätte sie als moralische Trunkenheit verdammt und als unstandesgemäß bezeichnet. Ihr größtes Glück war, von der letzten[559] Jagd Seiner Majestät zu sprechen. Ihr Lieblingsbuch waren die Denkwürdigkeiten des Herzogs von Saint-Simon, besonders wegen der genealogischen Nachrichten darin.

Julian wußte, an welchem Platz die Beleuchtung am vorteilhaftesten für die schöne Marschallin war. Dort fand er sich immer vor ihr ein; stets aber war er sorglich bedacht, sich selbst so zu setzen, daß er Mathilde nicht sehen konnte.

Erstaunt über sein beständiges Ausweichen, setzte sie sich eines Abends mit ihrer Handarbeit nicht wie sonst am blauen Sofa, sondern an einem Tischchen neben den Lehnstuhl der Marschallin. Julian hatte sie unter dem Hute der Frau von Fervaques in seinem Sehkreise. Zunächst erschreckten ihn die Augen, in denen sein Schicksal lag, förmlich, bald aber weckten sie ihn mit Gewalt aus seiner gewohnten Apathie. Er begann zu plaudern, und zwar vorzüglich.

Seine Worte waren an die Marschallin gerichtet; ihr einziger Zweck aber war, auf Mathildens Seele zu wirken. Schließlich wurde er so enthusiastisch, daß Frau von Fervaques nicht mehr verstand, was er sagte. Er begann Eindruck auf sie zu machen. Wäre er auf den Gedanken geraten, noch ein paar Tiraden in deutsch-mystischem Stil oder etwas Jesuiterei in sein Gerede zu mischen, so hätte ihn die Marschallin unter die höheren Menschen eingereiht, die berufen sind, das neunzehnte Jahrhundert zu erneuern.

»In einem fort begeistert mit der Marschallin zu sprechen, finde ich ziemlich geschmacklos,« sagte sich Mathilde. »Ich werde nicht mehr darauf hören.«[560]

Den Rest des Abends hielt sie ihr Wort, wenn es ihr auch schwer fiel.

Als sie um Mitternacht, den Leuchter in der Hand, ihre Mutter in deren Zimmer begleitete, blieb diese auf der Treppe stehen und hielt eine wahre Lobrede auf Julian. Mathildens üble Laune steigerte sich noch. Sie fand keinen Schlaf. Nur ein Gedanke beruhigte sie ein wenig: »Dinge, die mir verächtlich sind, haben also in den Augen der Marschallin hohen Wert!«

Julian fühlte sich weniger unglücklich, weil er eine Tat vollbracht hatte. Von ungefähr fiel sein Blick auf die juchtenlederne Brieftasche, die ihm Fürst Korasoff mit den dreiundfünfzig Liebesbriefen geschenkt hatte. Auf dem ersten stand die Bemerkung: »Nummer eins, acht Tage nach Beginn der Belagerung abzusenden!«

»Ich bin im Rückstand,« rief Julian. »Ich widme mich der Marschallin schon viel länger.«

Sofort machte er sich daran, die erste Epistel abzuschreiben, sterbenslangweiliges Geschwätz mit tugendsamen Floskeln. Bei der zweiten Seite schlief er buchstäblich ein. Ein paar Stunden später weckte ihn die Morgensonne. Er hatte über den Tisch gelehnt geschlafen. Das allmorgige Erwachen war ihm immer ein qualvoller Moment: zugleich erwachte sein Unglück. Er beendete die Abschrift des Briefes. Das brachte ihn beinahe in heitere Stimmung. »Sollte das wirklich ein junger Mann verfaßt haben?« fragte er sich. Manche Sätze waren neun Zeilen lang.

Am untern Rande der letzten Seite stand eine Bleistiftnotiz: Man überbringe jeden Brief persönlich, zu Pferd, in blauem Rock und schwarzer Krawatte. Man[561] händige ihn dem Pförtner ein, mit düsterer Miene und ganz melancholischen Augen. Bemerkt man die Kammerjungfer, so wische man sich verstohlen die Augen und spreche ein paar Worte mit ihr.

Alles das führte er vorschriftsmäßig aus.

»Was ich da beginne, ist tollkühn,« dachte er bei sich, als er langsam vom Hause Fervaques wieder wegritt. »Aber Korasoff hat die Verantwortung. Einer allgemein als unnahbar verschrienen Frau einen Liebesbrief zu schreiben! Ich werde mit der tiefsten Verachtung gestraft werden, und dann habe ich gar kein Vergnügen mehr. Mich selber zum Harlekin machen, ist schließlich das einzige, was mir noch Spaß bereitet. Das verhaßte Individuum, das ich selber bin, verhöhnen, ist mein Amüsement! Ich glaube, ich könnte ein Verbrechen begehen, nur um mich zu zerstreuen.«

Der Moment, wo er sein Pferd in den Stall führte, war herrlich wie seit vier Wochen keiner. Korasoff hatte ihm ausdrücklich verboten, unter keinerlei Vorwand die treulose Geliebte anzuschauen. Aber die Tritte des Pferdes, das Mathilde sehr gut kannte, und die Art, wie Julian mit dem Reitstock an die Stalltüre klopfte, um einen der Reitdiener zu rufen, lockten sie bisweilen an die Fenstergardine. Der Musselin war so dünn, daß Julian sie sah. Unter dem Rande seines Hutes konnte er Mathildens Gestalt sehen, aber nicht den Kopf. »Folglich sieht sie meine Augen auch nicht,« sagte er sich. »Ich blicke sie also nicht an.«

Am Abend benahm sich Frau von Fervaques ihm gegenüber genau so, als hätte sie die philosophisch-religiös-mystische Abhandlung gar nicht erhalten, die[562] Julian am Morgen mit schwermütigster Miene an ihrem Hause abgegeben hatte. Am Abend vorher hatte ihn der Zufall das Mittel gelehrt, in Redseligkeit zu geraten. Es hieß: Mathildens Augen. Er setzte sich also so, daß er sie sehen konnte.

Einen Augenblick nach dem Erscheinen der Marschallin verließ Fräulein von La Mole das blaue Sofa. Sie mied somit ihre gewohnte Gesellschaft. Croisenois war über diese neue Launenhaftigkeit sichtlich betroffen. Sein unverkennbarer Schmerz milderte die Bitternis in Julians Herzeleid.

Das Unerwartete machte ihn beredt wie einen jungen Gott. Die Eitelkeit aber schleicht sich selbst in die Tempel der erhabensten Tugend. Als die Marschallin in ihren Wagen stieg, sagte sie sich: »Die Marquise hat recht. Der junge Priester hat etwas Vornehmes. Wahrscheinlich hat ihn meine Gegenwart anfangs schüchtern gemacht. Natürlich, denn was einem in diesem Hause begegnet, ist recht leichtfertig. Tugend gibt es hier nur im Gefolge des Altersgrauen. Offenbar hat der junge Mann den Unterschied gemerkt. Sein Stil ist gut. Nur fürchte ich, er ist über sein Gefühl im Irrtum, da er von mir Erleichterung erbittet. Aber schließlich, manche Bekehrung hat so angefangen! Seine Art und Weise zu schreiben spricht für ihn. Sie ist wesentlich anders als die der jungen Leute, die ich kennen gelernt habe. In der Prosa dieses jungen Leviten Hegt unverkennbar Weihe, tiefer Ernst und feste Überzeugung. Gewiß besitzt er die milde Tugend Massillons.«

Quelle:
Stendhal: Rot und Schwarz. Leipzig 1947, S. 559-563.
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