21. Vom Vorurteil

[44] Sehr gewitzigte Köpfe sind überaus empfänglich für Neugierde und Vorurteile. Am meisten bemerkbar ist das an Menschen, in denen das heilige Feuer, die Quelle der Leidenschaften, erloschen ist. Das ist eins der traurigsten Zeichen. Voreingenommenheiten hegen auch Abiturienten, die ins Leben treten. An beiden Gegenpolen des Lebens, sowohl bei zu viel als bei zu wenig Empfänglichkeit, ist man nicht natürlich genug, um den wahren Wert der Dinge herauszufühlen und den richtigen Eindruck zu gewinnen, den sie geben müssen. Die feurigen, übertrieben feurigen Seelen lieben, wenn[44] ich so sagen darf, auf Kredit. Sie jagen den Dingen entgegen, anstatt sie auf sich zukommen zu lassen.

Ehe der Eindruck, der eine natürliche Folge der Dinge ist, bis zu ihnen gelangt, idealisieren solche Menschen die Dinge von weitem und umkleiden sie, ehe sie sie wirklich erkennen, mit einem eingebildeten Reiz, dessen unerschöpflichen Born sie in ihrem Herzen tragen. Nähern sie sich dann den Dingen, so sehen sie sie nicht, wie sie in Wirklichkeit sind, sondern so, wie sie sie sich eingebildet haben. Sie wähnen etwas zu genießen und doch erlaben sie sich nur an einem Trugbilde. Aber eines Tages werden sie es müde, immer nur die Geber zu sein, und sie entdecken, daß das angebetete Idol »den Ball nicht zurückwirft«. Das Vorurteil ist dahin, und die Niederlage, die ihre Eigenliebe erlitten hat, läßt sie nunmehr den überschätzten Gegenstand ungerecht beurteilen.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 44-45.
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