61. Von der sogenannten Tugend

[226] Ich für meine Person beehre mit dem Namen »Tugend« die gewohnheitsmäßige Ausübung von beschwerlichen, anderen nützlichen Handlungen.

Der Heilige Simeon, der zweiundzwanzig Jahre unter Kasteiungen auf einer Säule zubrachte, ist in meinen Augen keineswegs tugendhaft. Ebensowenig ist es ein Kartäuser, der nur Fischspeisen ißt und sich nur am Donnerstag zu sprechen erlaubt. Ich gestehe offen, daß mir der General Carnot viel lieber ist, der in hohem Alter die harte Verbannung nach einer kleinen Stadt im fremden Norden einer niedrigen Handlung vorzog.

Während einer Festmesse in Pesaro (am 7. Mai 1819), zu der ich zu gehen gezwungen war, habe ich mir ein Meßbuch geben lassen und folgenden lateinischen Satz gefunden:

»Johanna, die Tochter Alfons des Fünften, Königs von Portugal, war in so hohem Grade von der göttlichen Liebe begeistert, daß sie schon von frühester Kindheit an alle weltlichen Dinge verachtete und nur sehnsüchtig nach dem himmlischen Reiche begehrte.«

Die rührendste Tugend, wie sie Chateaubriand im Génie du Christianism mit schönen Redensarten predigt, läuft eigentlich nur darauf hinaus, keine Trüffeln zu essen, weil man davon Leibschmerzen bekommen könnte. Es ist eine sehr kluge Berechnung, wenn man an die Hölle glaubt, aber immerhin eine Berechnung des[226] persönlichsten und prosaischsten Eigennutzes. Im Gegensatz hierzu legt die philosophische Tugend, die uns die Rückkehr des Regulus nach Karthago erklärt und während der Revolutionszeit zu ähnlichen Zügen begeistert hat, ein Zeugnis von Hochherzigkeit ab.

Lediglich um nicht in der jenseitigen Welt in einem Kessel mit siedendem Öl zu braten, widersteht in den Liaisons dangereuses Frau von Tourvel dem Valmont. Ich verstehe nicht, warum der Gedanke, mit einem Kessel siedenden Öls zu wetteifern, Valmont nicht veranlaßt hat, sich verachtungsvoll von ihr abzuwenden. Viel rührender erscheint mir Rousseaus Julie, die nur an ihr Versprechen und an das Glück Wolmars denkt.

Eine der lächerlichsten Verkehrtheiten auf Erden ist die, daß die Menschen das, was ihnen zu wissen not täte, schon zu wissen meinen. Man höre sie über Politik, diese schwierigste aller Wissenschaften, man höre sie über die Ehe und die Sittlichkeit sprechen.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 226-227.
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