Sechstes Kapitel.

[21] Obgleich unsere Familie, in gewissem Sinne, eine sehr einfache Maschine mit nur wenigen Rädern war, so muß man doch sagen, daß diese Räder durch so viel verschiedene Federn in Bewegung gesetzt wurden und nach so vielen eigenthümlichen Principien auf einander wirkten, daß ihr trotz aller Einfachheit dennoch die Ehre und die Vorzüge einer recht komplicirten nicht abzusprechen waren, und daß sie, was die Mannigfaltigkeit ihrer wunderlichen Bewegungen anbetraf, den Vergleich mit der künstlichen Maschinerie einer holländischen Seidenfabrik aushalten konnte.

Das, wovon ich jetzt reden will, war übrigens noch gar nicht so sonderbar, als manches Andere; es bestand nämlich darin, daß jede Aufregung, jede Debatte oder Verhandlung, jede Unterhaltung, jedes Projekt, jede Disputation – mit einem Worte Alles, was im Wohnzimmer vor sich ging – gleichzeitig auch in der Küche stattfand.

Dies möglich zu machen, wurde ein Kunstgriff angewandt. War nämlich eine ungewöhnliche Meldung, oder ein Brief in das Wohnzimmer gebracht worden, wurde ein Gespräch abgebrochen, bis der Dienstbote aus dem Zimmer wäre, zeigte das Gesicht meines Vaters oder meiner Mutter irgend eine Spur von Unzufriedenheit, – genug, schien irgend etwas auf dem Tapet zu sein, das zu erfahren und zu erforschen sich lohnte, so war es Regel, die Thür nicht fest zuzumachen, sondern sie blos anzulehnen – wie jetzt, – was unter dem Vorwande, daß die Thürangel verdorben sei, leicht zu bewerkstelligen war (und das war auch wohl mit eine der Ursachen, weshalb sie nie reparirt wurde). Auf diese Weise war jedenfalls eine Durchfahrt geschaffen, – nicht gerade so breit als die Dardanellen, aber breit genug, um so viel von jedem Handel durchzulassen, daß mein Vater der Mühe überhoben war, sein Haus zu regieren. – In diesem Augenblicke profitirte meine Mutter davon. – Dasselbe hatte Obadiah gethan, sobald er den Brief mit meines Bruders Tode auf den Tisch gelegt hatte, so daß Trim bereits dastand[22] und seine Gefühle bei dieser Gelegenheit aussprach, noch ehe mein Vater ich von seinem Erstaunen erholen und seine Rede beginnen konnte.

Ein wißbegieriger Beobachter der Natur, der Hiobs ganzen Heerdenreichthum besessen hätte, – leider sind die wißbegierigen Beobachter gewöhnlich höchst armselig, – würde die Hälfte darum gegeben haben, mit anzuhören, wie Korporal Trim und mein Vater, zwei nach Begabung und Bildung so verschiedene Redner, sich über derselben Bahre aussprachen.

Mein Vater, ein Mann tiefsten Studiums, schärfsten Gedächtnisses, – der seinen Cato, Seneca und Epictet an den Fingern hatte –

Der Korporal, ohne irgend etwas, dessen er sich hätte erinnern können, – der nie etwas gelesen als die Musterrolle, und nichts von großen Namen an den Fingern hatte, als die, welche in derselben verzeichnet gewesen waren.

Der Eine, von Periode zu Periode in Metaphern und Allegorien fortschreitend und (nach Art witziger und phantasiereicher Leute) die Einbildungskraft durch den Reiz und die Anmuth seiner Bilder und Gleichnisse immer lebhafter anregend –

Der Andere, ohne Witz, ohne Antithese, ohne alles Zuspitzen, ohne geistreiche Wendungen, geradeaus, alles Schildern und Bildern rechts und links zur Seite lassend, wie Natur ihn führte, geradeaus ins Herz! O Trim! wollte Gott, Du hättest einen bessern Biographen! – Wollte Gott, Dein Biograph hätte ein Paar bessere Hosen! – Kritiker, Kritiker! kann Euch denn nichts erweichen?! –

Quelle:
Sterne [, Lawrence]: Tristram Shandy. Band 2, Leipzig, Wien [o. J.], S. 21-23.
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