[275] Dr. Beringer. Der Bürgermeister. Amtsrichter Beringer tritt durch die Gartentür ein. Der Bürgermeister kehrt ihm den Rücken zu.
BERINGER gemessen. Guten Morgen!
BÜRGERMEISTER sich rasch umwendend, freudig. Ach, da bist du ja! Na also! Das war eine Aufregung den ganzen Morgen, weil du nicht da warst!
BERINGER steif. Hast du einen Augenblick Zeit für mich?
BÜRGERMEISTER. So eine Frage! Aber warte, ich will erst in der Küche Lärm schlagen. Will nach links ab.
BERINGER hält ihn zurück. Ich möchte mit dir allein reden.
BÜRGERMEISTER sieht ihn etwas verblüfft an. Auch recht. Gemütlich. Aber weißt du, Suschen muß ich doch holen. Sie hat dich schon am Gartenzaun erwartet. Will wieder ab.
BERINGER. Nein; bitte, bleib!
BÜRGERMEISTER. Wie du willst. Aber setz dich doch, und gib mal den Hut her!
BERINGER setzt sich, behält aber den Hut in der Hand. Ich danke.
BÜRGERMEISTER jovial. Junge, wenn dich viel leicht was drückt, du weißt ...
BERINGER brüsk. Sag' mir offen, was war das gestern mit der Ovation?
BÜRGERMEISTER unbehaglich. Die Ovation? Gestern?
BERINGER. Ja.
BÜRGERMEISTER. Was damit war? Gott!
BERINGER. Du bist gestern immer meinen Fragen ausgewichen?
BÜRGERMEISTER. Ich?[275]
BERINGER. Ja. Ich wollte wissen, wie die Audienz ausfiel. Aber ... Zuckt die Achseln.
BÜRGERMEISTER. Ich habe keinen Grund, dir etwas zu verschweigen.
BERINGER. Warum hast du mir dann nichts erzählt?
BÜRGERMEISTER. Weil ... weil es wirklich nicht der Mühe wert war.
BERINGER. So? Es genügte aber doch, um dir eine Ovation zu bereiten?
BÜRGERMEISTER mit erkünstelter Lustigkeit. Ha! Ha! Diese Juristen! Das klingt ja wie eine Untersuchung!
BERINGER. Mir ist die Sache absolut nicht spaßhaft.
BÜRGERMEISTER patscht Beringer jovial auf das Knie. Lieber Junge, sage mir: was willst du eigentlich wissen?
BERINGER gereizt. Laß mich das nicht immer wiederholen, bitte! Ich will wissen, welche Tatsache dieses sonderbare Ständchen veranlaßte?
BÜRGERMEISTER verlegen. Du lieber Gott! Die Bürgerschaft findet eben, daß ich in der leidigen Bahngeschichte ihre Interessen gewahrt habe.
BERINGER. Du bist aber abgewiesen worden?
BÜRGERMEISTER. Allerdings, ich ...
BERINGER. Also! Für einen Mißerfolg wird man doch nicht gefeiert! Was ist denn das für eine Logik!
BÜRGERMEISTER. Die Leute wollten mir halt zeigen, daß sie mir keine Schuld beimessen.
BERINGER. Das drückt man gewöhnlich anders aus.
BÜRGERMEISTER immer unruhiger, wischt sich die Stirne. Es kam mir selbst durchaus unerwartet. Ich war gerade so überrascht wie du.
BERINGER. Was sollten dann die landläufigen Phrasen bedeuten? Von Mut und Vorkämpfer?
BÜRGERMEISTER. Das sind so Sprüche, wie man sie eben macht! Übrigens war es gewiß gut gemeint. Ja ... du, jetzt muß ich aber wirklich Suschen holen, sonst ... Will links ab.
BERINGER hält ihn wieder am Arm zurück. Du weichst mir also konstant aus?
BÜRGERMEISTER. Wie kommst du nur auf die Idee? Zwischen uns zwei gibt es doch keine Geheimnisse![276]
BERINGER steht auf. Ich kann dir nur sagen, diesen Mangel an Vertrauen finde ich sonderbar, sehr sonderbar.
BÜRGERMEISTER schiebt seinen Arm unter den des Amtsrichters und geht mit ihm etwas nach vorne. In vertraulichem Ton. Komm her, Adolf, und laß mich einmal reden! Nicht wahr?
BERINGER. Ich habe dich ja darum ersucht.
BÜRGERMEISTER. Eben. Siehst du, du bist jetzt Amtsrichter ...
BERINGER klopft ungeduldig mit dem Fuße auf den Boden.
BÜRGERMEISTER fortfahrend. Und du wirst später einmal Vorstand von einem Gericht. Nicht wahr?
BERINGER. Was soll das?
BÜRGERMEISTER. Siehst du, wenn du Vorstand bist, dann macht man dich für alles verantwortlich. Einfach für alles. Wenn ein Schreiber was Dummes macht, fragt man nicht den Schreiber, warum er was Dummes macht, sondern man fragt dich, warum du einen Schreiber hast, der was Dummes macht. Verstehst du mich?
BERINGER. Nein. Absolut nicht.
BÜRGERMEISTER. Aber es ist doch so einfach! Ich bin auch Vorstand und muß für alles herhalten, ob ich etwas dafür kann oder nicht.
BERINGER. Bist du jetzt fertig?
BÜRGERMEISTER fährt sich mit dem Taschentuch über die Stirne. Gott sei Dank, ja. Nur das will ich noch sagen, Adolf, wenn du einmal älter bist, wirst du sehen, daß die Verantwortlichkeit nichts Leichtes ist. Und jetzt haben wir uns hoffentlich verstanden? Nicht wahr?
BERINGER setzt seinen Hut auf. Vollkommen ... Ich verstehe, daß du mir keine Aufklärung geben willst, und ...
BÜRGERMEISTER. Aber ...
BERINGER. Und daß ich sie von anderer Seite erhalten muß. Rasch ab durch die Gartentüre.
BÜRGERMEISTER ihm nacheilend. Du! hör doch! Junge.
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