Überführung

[141] Der Antrag auf Überführung eines Gefallenen ist an das Zentralnachweiseamt in Spandau zu richten, das die Verhandlungen mit Frankreich und Belgien unter folgenden Bedingungen aufnimmt: 1. Die gesamten Kosten sind von den Angehörigen zu tragen. 2. Die Identität muß einwandfrei feststehen. 3. Soweit es sich um bayerische, sächsische oder württembergische Krieger handelt, müssen die Anträge an die Zweigstellen des Zentralamtes in München, Lothstraße 17, Dresden-A., Zirkusstraße 38, oder Stuttgart, Rotebühlstraße (große Infanteriekaserne) gerichtet werden. 4. Überführungen sind nur aus Einzelgräbern heraus gestattet. 5. Für Fehler bei der Grabanlage haftet das Reich nicht.

Eine große Gesellschaft in München plant die Heimholung Kriegsgefallener in Lastautomobilen, da der Transport auf der Eisenbahn,[141] der in jedem Falle einen ganzen Waggon erfordert, am teuersten ist. Die Überführung in Automobilzügen würde sich, wie die Gesellschaft versichert, bei einiger Beteiligung fast um die Hälfte verbilligen. Alle maßgebenden Stellen betonen übrigens immer wieder, daß keine Garantie für die Identität des Exhumierten gegeben werden kann.


(Französische Bauern laden Leichen auf ein deutsches Lastautomobil. Die gefallenen Soldaten sind in grobe Sackleinewand genäht. Der Wagen ist fast voll – sie liegen sehr eng. Sie sprechen miteinander.)

Die erste Leiche: Bist du identisch?

Die zweite: Ich glaube nicht. Ich bin ein Stumpf.

Die erste: Was fehlt dir?

Die zweite: Beide Beine, eine Hand – und Bauchschuß.

Die erste: Weißt du, was unser Bataillonsarzt zu dir gesagt hätte? »K. v.«!

Eine dritte: War er denn selbst k. v.?

Die erste: Von hinten war er k. v.: er war fast jeden Abend vollständig knille.

Die zweite: Warum nicht jeden Abend?

Die erste: Das durfte nur der Bataillonskommandeur. Disziplin muß sein.

Eine vierte: Meine Herren! Meine Herren!

Die erste: Was gibts? Was ist?

Die vierte: Kommen wir auch wirklich, wirklich nach Hause? Nach München . . . ?

(Ungeheure Aufregung auf dem Wagen.)

Die erste: Nach München . . . ? Der ist Bayer. Du bist Bayer?

Die vierte: Ja – jawohl.

Die zweite: Ja, hat denn deine Frau auch ihr Gesuch nicht etwa nach Berlin gerichtet?

Die vierte: Ja, wohin denn sonst?

Die dritte: Mensch, sie mußte es an die Zweigstelle des Zentralnachweiseamtes München, Lothstraße 17, richten. Berlin! Pah!

Die vierte (erstaunt): Ja, ist denn das nicht ganz einerlei? Das liegt doch alles beides in Deutschland . . . ?

Die erste: Kamerad – wann bist du eigentlich gefallen? Bayern und Preußen . . .

Die Bauern: Der Wagen ist voll! Marchez! Marchez!

(Der Wagen fährt an)

Die erste: Ich bin ja so glücklich, daß sich der Transport um die Hälfte billiger stellt als auf der Eisenbahn. Wie gut, daß die Beteiligung eine so starke ist! Hinzu hatten wirs gratis.

Die zweite: Auf mich warten sie Zuhause. Wenn sie mich nur nicht auspacken . . . Sie wird erschrecken.

[142] Die dritte: Wer –?

Die zweite (ganz leise): Marie.

Die dritte: Wie es wohl zu Hause aussehen wird . . . !

Die vierte: Ob wir gesiegt haben?

Die erste: Du bist wohl noch von 1914?

Die dritte: Gesiegt werden wir nicht haben. Aber die Heimat wird uns danken, uns und den noch lebenden Krüppeln. Die Generale werden uns ehren. Hindenburg wird uns ehren.

Die vierte: Sage mal – warst du nicht Jude?

Die dritte: Ja.

Die vierte: Na ja – dann wird er dich vielleicht auch ehren . . .

Die zweite: Wo wohl der Kaiser ist?

Die dritte: Na – wo wohl? Natürlich bei seinem Volke!

Die vierte: Die Kameraden werden uns nicht vergessen haben – uns nicht. Aber das kann ich dir sagen: Das macht keiner mehr mit . . . Die Leute sind kuriert . . .

Die zweite: Ich habe zwei Kinder. Was soll ich antworten, wenn sie fragen: Vater, wofür bist du gefallen?

Die erste: Wofür? Das habe ich ganz vergessen . . . Weiß es vielleicht einer –?

Viele: Nein – wir wissen es nicht. Wir haben es alle, alle vergessen . . .

Die zweite: Was habt ihr denn behalten? Die Urlaubsfahrten? Die drei Tage Mittel? Die dicke Luft . . . ? Oder etwa, was es immer zu fressen gab?

Alle (nach der Melodie »Deutschland, Deutschland über alles«): Marmelade – Marmelade – Marmelade –!

(Der Wagen stuckert. Man versteht nichts mehr.)

Der Fahrer: Hast du Franken eingewechselt?

Der Beifahrer: Meinste, ich fahr hier zu meinem Vergnügen mit! Wenn ich Schwein habe, handle ich sie mit 1700.

Der Fahrer: Ich habe Seife hinten drin und die Kiste mit dem Cheviot. Paß ja an der Grenze Obacht –!

Der Beifahrer: Ach, uns tun sie nischt –: wir ham ja ne patriotische Fuhre!

(Abblenden)

Großaufnahme

Lindström-Ludendorff (in seinem Arbeitszimmer. Vor ihm liegt aufgeschlagen der dritte Band seiner gestammelten Werke): Luise! Luise! (Die Haushälterin erscheint.)

Ludendorff: Sind die Hunde los?

Die Haushälterin: Jawohl, Exzellenz!

Ludendorff: Ist das Tor vergattert?

Die Haushälterin: Jawohl, Exzellenz!

[143] Ludendorff: Sind die Fensterladen heruntergelassen? Die Selbstschüsse angestellt? Ist mein Paß noch da? Liegt meine blaue Brille parat?

Die Haushälterin: Alles, wie immer: reisebereit.

Ludendorff: Dann will ich jetzt zu Bett gehen. Gute Nacht.

Die Haushälterin: Gute Nacht, Exzellenz!

Ludendorff: Wo ist der Scheck von Mittler –? (Betend:) Lernen wir nach diesem tiefen Sturz in Erinnerung an unsre im Glauben an Deutschlands Geist gefallenen Helden, die dem Vaterlande jetzt so fehlen, wieder Deutsche zu werden und stolz zu sein, daß wir es sind! Das walte Gott!

(Abblenden)


  • · Kaspar Hauser
    Die Weltbühne, 09.03.1922, Nr. 10, S. 249.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 141-144.
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