Deutsche Woche in Paris

[343] Im Januar hatten wir zwei deutsche Gäste: Thomas Mann und Alfred Kerr haben vor Franzosen in Paris gesprochen, Mann in der Dotation Carnegie, Kerr in der Sorbonne, in einer öffentlichen Veranstaltung der Friedensgesellschaften und auf einem Empfang der Zeitschrift ›Comoedia‹.

Der Empfang durch die Presse war, von kleinen Ausnahmen abgesehen, interessiert, viele Zeitungen brachten Fotografien. Beide Schriftsteller wurden durch den Professor Lichtenberger patronisiert, der ein ausgezeichneter Kenner der deutschen Literatur ist. Mann sprach ein paar Einleitungsworte französisch, die Rede selbst deutsch; Kerr sprach französisch. Wer da weiß, wie unendlich schwer es ist, vor einem französischen Publikum als Fremder französisch zu sprechen, auch dann, wenn man die Sprache so gut beherrscht wie Mann und Kerr, wer weiß, wie die Seele einer französischen Zuhörerschaft so ganz, ganz anders ist als die einer deutschen, wird keine Kritik der Einzelheiten vornehmen, Kerr erzählte über deutsches Theater, das ihm eine Möglichkeit zur Völkerversöhnung zu sein scheint; Mann sprach über deutsche und französische Geistigkeit nach dem Kriege. Da kurz vorher Elisabeth Rotten von einer französischen Patriotin in demselben Saal, wo Kerr sprach, angepfiffen worden war, hatte man Einladungen ergehen lassen; die Kontrolle war streng, vielleicht zu streng. Welchen Eindruck diese Vorträge auf Franzosen gemacht haben, ist sehr schwer zu sagen.

Wer als Deutscher in Paris diese seine Landsleute hat sprechen hören, muß bei der Beurteilung ihrer Wirkung auf die deutsch-französische[343] Annäherung jede interne literarische Erinnerung völlig beiseite lassen. Es ist in diesem Zusammenhang ganz gleichgültig, wie ich zu Kerr oder Mann ›stehe‹ – ob ich sie liebe oder nicht lese –: Franzosen sehen diese Abgesandten deutschen Geistes mit ganz andern Augen an als wir, die wir sie nah kennen, und es kommt in diesem Falle nur auf die Franzosen an.

Der deutsche Botschafter, Herr v. Hoesch, hatte einen Abendempfang veranstaltet, auf dem zum ersten Mal nach dem Kriege wieder französische Minister die deutsche Botschaft besuchten. Aber schließlich ist ja seit sieben Jahren Friede . . . Herr v. Hoesch ist ein außerordentlich liebenswürdiger Herr, dessen gewandte Propaganda durch Literatur dem polternden Auftreten einiger seiner Kollegen in Südamerika vorzuziehen ist. Ich hatte den Eindruck, daß Kerr und Mann von ihrer Verständigungsarbeit befriedigt waren.

Nichts gegen diese Arbeit.


Und nichts für sie.

Eine solche Annäherung ist nicht nur auf eine kleine Zahl von Leuten beschränkt – sie bleibt es auch. Dergleichen dringt erfahrungsgemäß niemals durch, dringt niemals in die Massen, und man sage ja nicht, daß so etwas ein Anfang ist. Es ist ein Ende.

In Berlin liegt das noch etwas anders als in Paris. Der Kreis von Gebildeten, die für einen Fremden Interesse haben, ist dort viel größer als in dem egozentrischen Paris, das nicht angelaufen kommt, sondern zu dem man kommen muß. Nicht der Vortragssaal ist hier das Zentrum, sondern der Salon. Durch diese Salons geht aber seit altersher ein solcher Strom von Fremden aller Kontinente, daß die Gewohnheit die Neugier auch dann getötet hätte, wenn sie vorhanden wäre. Sie ist nicht vorhanden. Der Franzose hält es heute noch für durchaus natürlich, daß die Vertreter fremder Völker von ihm etwas annehmen, er will bei ihnen nichts lernen. Er spricht ihre Sprachen nicht, er kennt ihre Kulturen nicht, denn er reist nicht. Die wirklich internationale Schicht schwimmt wie Öl auf dem Wasser. Da ist aber noch ein andres.

Die Kernfrage ist überhaupt nicht, ob uns gelingt, die französische und die deutsche Lebensauffassung einander nahe zu bringen, was schwer, beinahe unmöglich ist – es handelt sich darum, Kriege zu vermeiden. Und die werden so nicht vermieden.

Reden deutscher Schriftsteller in Paris; Ausstellung französischer Bilder in Berlin; Gastspiel Max Reinhardts in Paris; Reden französischer Schauspieler in Berlin; Entsendung intellektueller Deputationen in beide Länder –: alles das bewirkt noch nichts. Es erweitert vielleicht den Horizont einzelner Leute, es stärkt das Wissen von der Weltlage – aber es wird nicht ein Schuß weniger abgefeuert werden, wenn die Vaterländer rufen.

[344] Solange die Staatsmacht, über das Leben der Volksangehörigen zu verfügen, unangetastet bleibt, ist diese Art pazifistischer Annäherung ein harmloses Gesellschaftsspiel. Solcher Pazifismus verpflichtet zu nichts. Man ist des besten Willens voll, zu verstehen, sich verständlich zu machen, die Völker zu nähern – doch wenn die Trompeten blasen, ist das alles vergessen. Und das ist keine pessimistische Theorie – dafür gibt es einen unwiderlegbaren Beweis. Deutsche Intellektuelle in Paris, französische in Berlin . . .

Genau so weit waren wir im Jahre 1912 auch.

Auch damals kamen Pariser nach Heidelberg, lernten und lehrten; kamen Berliner nach Paris, malten und wirkten auf die Malerei ein; hielten wir einander Vorträge und klatschten uns zu; konnten sogar Fahnen entfaltet werden, die nicht abgerissen wurden – und wohin hat das geführt? was hat das genützt? Gräber geben die Antwort.

Wollen wir daraus keine Lehre ziehen –? Soll dieser ganze Affentanz würdig gebildeter Männer um das Idol einer hochverehrten Weltanschauung von vorn beginnen? Er ist lächerlich und gefährlich.

Lächerlich: weil sogar die Leute, die im Jahre 1914 auf beiden Seiten den Veitstanz bekommen haben, wiederum mittun, auf beiden Seiten. Da sitzen dieselben bösartigen Greise, die mit ihren bescheidenen Kräften den Abdeckern der Generalität geholfen haben, so gut sie konnten; n'ayant pas pu mourir à la tête de leurs troupes, ils mettaient leurs plumes dans les mains des officiers . . . Dieselben Kriegsdichter, die noch zur Zeit der Ruhrbesetzung als Vaterlandsretter figuriert haben, Gesinnung so unsauber wie Verse, strecken heute die Hände als Versöhnungszeichen hin. Es waren nicht einmal Leithammel.

Gefährlich: weil es den guten Willen Gutgläubiger absorbiert und abfängt. Sie glauben, wirklich etwas für den Pazifismus zu tun, wenn sie solchen Organisationen angehören, Beiträge bezahlen, eine grüne Mitgliedskarte haben; sie glauben, ernstlich ihrer Pflicht zu genügen, wenn sie in einem Vortrag des Fremden nicht pfeifen, sondern klatschen. Das ist gar nichts. Ich betone ausdrücklich, daß ich die Lage auf der französischen Seite genau so ansehe wie auf der deutschen. Zugegeben, daß Herr Geßler nicht in die französische Botschaft ginge, wenn dort Herr Valéry zu Gast wäre: sein gewinnendes und schlagfertiges süddeutsches Wesen käme da vielleicht nicht so recht zur Geltung . . . Herr Painlevé geht in die deutsche Botschaft. Na und –?

Und es ist nichts geändert, und es kann so nichts geändert werden, und es ist alles für die Katze. Nicht darauf kommt es an, ob ein deutscher Literat in Paris ›richtig‹ spricht oder nicht – meist haben sie viel zu viel Scheu, messen ihren Worten eine viel zu große Bedeutung bei und glauben, es hänge weiß Gott was davon ab, wenn sie etwa ein ›unvorsichtiges‹ Wort sprächen . . . Während doch nur die unvorsichtigen Worte etwas zu Wege bringen.

[345] Diese brave Annäherung ist deshalb von der ersten bis zur letzten Minute zwecklos, weil sie nichts ändert, weil sie nicht ins Volk geht, weil sie Machtverhältnisse anerkennt, statt sie bis aufs Messer zu bekämpfen. Das Getue erinnert an die übermütigen Schelmenstreiche guter Schüler in einer Festvorstellung der Anstalt: schmunzelnd sitzen die Lehrer dabei und freuen sich; es ist so schön erlaubt.

Sehr bezeichnend ist das Publikum dieser pseudo-pazifistischen Veranstaltungen. Was sofort auffällt, ist der fast vollkommene Mangel an Jugend. Wo ist die –? Auf der andern Seite. Aber wäre ich zwanzig Jahre: ich ginge auch dorthin, wo etwas getan wird, wo Schwung sitzt, Kraft, Aktion, blutgeschwellte Adern. Wenn man in der Liebe stets zwanzig Jahre ist, dann ist man in der demokratischen Politik immer hundert. Manche werden gleich so geboren.

So gehts nicht. Es geht nicht, weil die Zeit der gediegenen Bürgerbildung, wie sie etwa die ›Frankfurter Zeitung‹ repräsentiert, ein für alle Mal vorbei ist; weil es keine Kunst, keine Wissenschaft, keine Technik gibt, die über den Klassen schwebt wie eine weiße Fee. Das neutrale Gebiet, auf dem sich die Schriftgelehrten dieser Gattung würdig treffen, objektiv gebügelt und mit herrlich neutraler Hemdbrust – dieses Gebiet gibt es nicht und hat es nie gegeben. Es schmeichelt den Trägern, ich weiß es; es tut weh, auf die Sinnlosigkeit eines so schön humanen Tuns aufmerksam gemacht und mit der Nase auf die Gasgranaten gestoßen zu werden, die im Keller, grade unter der Bibliothek, liegen – aber es ist die Wahrheit. Die Wahrheit, die keinen braucht, der sie verkündet; die Herren selbst verkünden sie in dem Moment, wo's ernst wird; kaum können sie den Patriotismus halten, schon spritzt er unter den kühlen Sätzen der Wissenschaft in Literatur und Kunst eklig hervor. Das Bezirkskommando wartet, die Wirtschaft wartet, und in den Zwischenpausen spielen sie Völkerversöhnung.

Es gibt heute eine Locarno-Heuchelei, wie es eine patriotische Heuchelei gibt. Das Institut de la Coopération Intellectuelle ist zu Paris mit vielen schönen Reden eröffnet worden – ich verspreche mir nicht das geringste davon. Wir haben dergleichen vor dem Kriege gehabt, es hat nicht gehalten, und es wird wieder nicht halten. Ehren-Doktordiplome sichern keinen Frieden.

Den Frieden sichert eine kapitalistische Konjunktur, die der einen Gruppe aus rein wirtschaftlichen Erwägungen verbietet, gegen die andre Gas abblasen zu lassen. Das wäre, auf der Basis der gegebenen Gesellschaftsordnung, eine echte und wahre Friedensmöglichkeit.

Ich wünsche mir eine andre. Das schöne französische Wort: »On est toujours le réactionnaire de quelqu'un« ist mir gut bekannt, und ich beabsichtige nicht, wohlmeinenden und anständigen Männern Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Ich halte nur ihre Bemühungen und ihre Schriften, ihre gemäßigten und liberalen Anstrengungen für zwecklos.[346] Nicht, weil ihre Personen unzulänglich wären, sondern weil die Sache, der sie zu dienen glauben, ihrer spottet. Nichts ist gegen die Arbeit guter Mittler zu sagen – aber alles gegen ihre Bewertung.

Diese Wirtschaftsordnung kann keinen Frieden halten, weil sie den Krieg zum Leben braucht, wie ihn die alten Dynastien gebraucht haben. Diesen latenten Kriegszustand bekämpft man nicht, indem man gemeinsam Schmetterlinge sammelt und kunstgewerbliche Gebrauchsgegenstände ausstellt, sondern: indem man die Verursacher und die Ursachen dieser Wirtschaftsunordnung beseitigt. Da es in der Geschichte keinen freiwilligen Verzicht von Klassen auf ihre Vorrechte gibt: mit Gewalt. Denn dies ist das Wesen der Revolution: daß die althergebrachten Begriffe eben nicht mehr gelten, daß man eben nicht gerecht ist, daß es eben nicht nach Paragraphen und Verdienst, sondern nach der Notwendigkeit geht, daß jene Ordnung, die sich das nur gebildete Gehirn nicht wegzudenken vermag, erschüttert und eingeschlagen wird. Eine Luftreinigung.

In diesem Sinne bin ich für eine deutsch-französische Verständigung.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 09.02.1926, Nr. 6, S. 206.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 343-347.
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