»Machen Sie das mal den ganzen Tag –!«

[86] Von außen sieht alles ganz anders aus als von innen.

Nimmt einer auf dem Bahnhof Abschied, dann zieht er das Taschentuch, wenn der Zug anruckt, und macht Winke-Winke, und dann sieht er noch eine Hand, und dann geht er ab. Es war ein richtiger Abschied. Der Stationsvorsteher aber guckt gar nicht mehr hin; der sieht das nämlich alle Tage. Und da sieht das ganz, ganz anders aus . . . !

Sitzen Sie mal in dem kleinen Käfig und knipsen Billetts! »Die[86] Fahrkarte!« – »Die Fahrkarte, die Dame!« – Und knips, knips, knips . . . und dann ziehts – und dann kommt eine Kontrolle – und dann hat einer sein Billett verloren, und wir sollen die Schuld haben – und dann kommt gar keiner – und dann ziehts –

Sitzen Sie mal den ganzen Tag in der Zeitungsbude! Na, gar nicht, als ob das nun so ein furchtbar schwerer Dienst wäre . . . aber man kann doch nicht immerzu lesen, man muß doch auch aufpassen – ›Berlin am Abend‹ – ›Den neuen Sport‹ – »Mojn, Herr Müller!« – »Is noch nicht raus . . . kommt erst in ner halben Stunde!« – »Na, Frolleinchen, vielleicht noch was Hübsches für die Mode . . . mit Schnittmustern . . . ?« und dann die Straße – jeden Stein kennt man auswendig – neulich war hier der Zusammenstoß . . . von außen ist ja son Zeitungskiosk ganz bunt – aber von innen sieht das ganz anders aus!

Oder meinen Sie, es macht Spaß, den ganzen Tag die müden Knochen mit den Reklametafeln rumzutragen? Ich guck alle Leute an – mich guckt keiner an: sie lesen bloß auf einem. Diese Pflastertreterei . . . aber was soll man machen . . . man ist schon froh, daß man wenigstens die Arbeit gekriegt hat . . . Sieht von außen ganz leicht aus . . . aber zehn Stunden rumpesen ist keine Kleinigkeit . . .

Und sitzen Sie mal den ganzen Tag am Steuer von dem Autobus – das schwere Ding um die Ecke rumkriegen . . . und dann Verspätung . . . und dann glitscht der Asphalt . . . und die Verantwortung . . . und die Schupos . . . und Kontrolle . . . und passieren soll nichts . . . und immer mit die Ruhe! Ja, da denkt kaum einer dran von denen, die hinten raufsteigen – die denken bloß an sich – is ja auch richtig . . . – aber von innen sieht das eben ganz anders aus . . .

Und der im Fahrstuhl – immer rauf und wieder runter – immer dasselbe, den ganzen Tag: »Spielwaren, Haushaltungsgegenstände, Errrfrischungsraum!« und wieder rauf und wieder runter . . .

Und der Mann im Karussell . . .

Und der Wärter bei den Affen . . .

Und der Lokomotivführer . . .

Und wir alle – wir alle –:

Wir sind Menschen im Käfig. Mitunter ganz ulkig für die, die vorübergehen. Aber von innen –: da sieht das ganz, ganz anders aus.


  • · Theobald Tiger
    Arbeiter Illustrierte Zeitung, 1930, Nr. 13, S. 249.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 86-87.
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