Schnipsel

[108] Es ist die Aufgabe des historischen Materialismus, zu zeigen, wie alles kommen muß – und wenn es nicht so kommt, zu zeigen, warum es nicht so kommen konnte.


Was die Leute pervers nennen, das läßt sich von einem geübten Sexualpsychologen leicht auflösen. Aber wirklich pervers, gegen den Strich, gegen die Natur . . . da gibts wenig. Von dem wenigen ist die ältere Amerikanerin, die über Sittlichkeit spricht und urteilt, wohl das allerekelhafteste, was zur Zeit auf der Erde herumsitzt.


In der Ehe pflegt gewöhnlich immer einer der Dumme zu sein. Nur wenn zwei Dumme heiraten –: das kann mitunter gut gehn.


An einem Rausch ist das schönste der Augenblick, in dem er anfängt, und die Erinnerung an ihn.


Wie rasch altern doch die Leute in der SPD –! Wenn sie dreißig sind, sind sie vierzig; wenn sie vierzig sind, sind sie fünfzig, und im Handumdrehn ist der Realpolitiker fertig.


[108] Das schlimmste Verbrechen, das Hitler begangen hat: er hat die echte Jugend in seiner Partei verraten.


Spengler, dieser Karl May der Philosophie. Er hat keine Heldentaten verrichtet, er hat sie nur prahlend aufgeschrieben. May war übrigens bescheidener und schrieb um eine Spur besser.


Reden können; gut sprechen; einen Saal zu ›haben‹ – das ist eine der niedrigsten Fähigkeiten, die es gibt. Sie ist in Deutschland so selten, daß der gute Redner stets angestaunt wird. Für einen Menschen und nun gar für eine Sache besagt die Tatsache, daß einer gut reden kann, noch gar nichts.


Als Kind sah ich einst vom Fenster eine Messerstecherei. Der Gestochene, ein Mann mit großem, gelbem Bart, lief brüllend über den Damm. Mir schlug das Herz. Ich weiß es ganz genau: eine Lustempfindung war das nicht. Aber der kleine Gott der Lust, der in der Nebenkammer schlief, drehte sich unruhig um. Schreck über vergossenes Blut, das ich nie vergießen möchte – das reicht so tief hinunter wie die Lust. Wohl bei allen Menschen. Man beobachte Frauen während eines Krieges.


Einer schönen Frau zuzusehn, die sich anzieht, das ist so schön wie der Anblick junger, spielender Raubtiere. Alles geschieht im höchsten Ernst und ist doch Spiel. (Oho!) Ja, ich weiß schon.


Jede Frau darf beten. Ein Mann, der betet, muß sehr dumm oder sehr weise sein.


Wenn man vom Papst als vom Doktor Ratti sprechen wollte und von den Offizieren stets ohne Titel, die sie ja auch dann noch mit sich herumschleppen, wenn sie Filmdirektoren geworden sind; wenn Richter ohne Talare Recht sprechen müßten, kurz: wenn man die künstlich zur Feierlichkeit aufgeblasene Tätigkeit gewisser Leute auf den Alltag reduzierte –: das wäre bitter für die Beteiligten. Aber keine Sorge: wer keine Uniform hat, bewundert sie wenigstens.


Die Menschen sind so geartet: Wenn ihnen einer sagt, daß Herr X. befördert wurde, so imponiert ihnen das ungeheuer. Wer ihn befördert hat, danach fragen sie gar nicht.


Eine Geschichte? Dies ist eine schöne Geschichte:

Ein amerikanischer Milliardär hatte einen Auto-Unfall und verlor dabei ein Auge. Er ließ sich ein Glasauge machen. Und als er damit[109] am ersten Tage wieder ins Büro kam, fragte er seinen Sekretär: »Nun möchte ich doch mal hören . . . Welches ist das Glasauge?« Der Sekretär sah ihn einen Augenblick an und sprach: »Das linke.« – »Alle Wetter!« sagte der Milliardär. »Woher wissen Sie das?«

»Das linke hat eine Spur von Herz«, sagte der Sekretär.


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 09.08.1932, Nr. 32, S. 205.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 10, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 108-110.
Lizenz:
Kategorien: