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[370] Und wieder, während er saß, ward eine Landschaft um ihn.

Zu beiden Seiten eines sumpfigen Wegs ziehen sich kahle Baumstrünke hin, deren Äste zackig und verworren in die Luft gespreizt sind. Das Licht ist dämmerig, ungefähr der fünften Morgenstunde im Herbst entsprechend. Die Wolken hängen schwer herab, in Tümpeln spiegeln sie sich noch zerrissener. Da und dort stehen Gebäude aus Ziegeln; sie sind fast alle in halbfertigem Zustand. Bei einem fehlt das Dach, bei andern die Fenster; überall sind Mörtelgruben voll weißer Kalkmassen, und Werkzeuge liegen herum, Schöpfkellen, Hämmer, Meßstäbe, Schaufeln, Spaten; auch Karren und Balken. Nirgends ist aber ein Mensch zu sehen. Es ist eine feuchte, moderige, häßliche Einsamkeit, die auf den Menschen zu warten scheint. Alles ringsherum hat dieselbe gespannte und drohende Stimmung des Wartens: das von den zerfetzten Wolken rieselnde karge Licht; die morastige Flüssigkeit in den Wagengeleisen; die wie auf den Rücken geworfene riesige Insekten sich spreizenden Strünke; die unvollendeten Ziegelbauten mit den Mörtelgruben und Werkzeugen.

Das einzige Lebewesen ist eine Krähe, die am Rand des Weges hockt und Christian mit boshaften Blicken beobachtet. Jedesmal, wenn er ein paar Schritte macht und sich nähert, fliegt sie lautlos auf, entfernt sich ein Stück und hockt sich dann wieder auf einen Baumstrunk. Da wartet sie, bis er sich genähert hat. In den runden Augen, die braun glänzen wie lackierte Bohnen, ist teuflischer Spott, und Christian wird des Verfolgens müde. Die Nässe dringt ihm durch die Kleider, die Schuhe sind voll Kot und bleiben bei jedem Schritt stecken, das unheimliche Zwielicht verwischt die Umrisse und täuscht über die Ferne der Dinge. Er lehnt sich erschöpft an einen kurzen Stamm und wartet nun auch seinerseits. Die Krähe hüpft und fliegt, bald weiter weg, bald näher her;[371] sie ist unwillig über sein Warten, endlich sitzt sie still am Wegrand gegenüber, und die lackierten Bohnenaugen verlieren den tückischen Ausdruck und erlöschen langsam.

Da schauert es ahnungsvoll durch den Raum; Ruths Name ist der Atem der Landschaft, Ruths Schicksal will sich verkündigen.

Und Christian wartete.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 370-372.
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