Zweite Szene

[142] Friedhof in strömendem Regen. – Vor einem offenen Grabe steht Pastor Kahlbauch, den aufgespannten Schirm in der Hand. Zu seiner Rechten Rentier Stiefel, dessen Freund Ziegenmelker und Onkel Probst. Zur Linken Rektor Sonnenstich mit Professor Knochenbruch. Gymnasiasten schließen den Kreis. In einiger Entfernung vor einem halbverfallenen Grabmonument Martha und Ilse.


PASTOR KAHLBAUCH. ... Denn wer die Gnade, mit der der ewige Vater den in Sünden Geborenen gesegnet, von sich wies, er wird des geistigen Todes sterben! – Wer aber in eigenwilliger fleischlicher Verleugnung der Gott gebührenden Ehre dem Bösen gelebt und gedient, er wird des leiblichen Todes sterben! – Wer jedoch das Kreuz, das der Allerbarmer ihm um der Sünde willen auferlegt, freventlich von sich geworfen, wahrlich, wahrlich, ich sage euch, der wird des ewigen Todes sterben! – Er wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft. – Uns aber, die wir fort und fort wallen den Dornenpfad, lasset den Herrn, den allgütigen, preisen und ihm danken für seine unerforschliche Gnadenwahl. Denn so wahr dieser eines dreifachen Todes starb, so wahr wird Gott der Herr den Gerechten einführen zur Seligkeit und zum ewigen Leben. – Amen.[142]

RENTIER STIEFEL mit tränenerstickter Stimme, wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft. Der Junge war nicht von mir! – Der Junge war nicht von mir! Der Junge hat mir von klein auf nicht gefallen!

REKTOR SONNENSTICH wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft. Der Selbstmord als der denkbar bedenklichste Verstoß gegen die sittliche Weltordnung ist der denkbar bedenklichste Beweis für die sittliche Weltordnung, indem der Selbstmörder der sittlichen Weltordnung den Urteilsspruch zu sprechen erspart und ihr Bestehen bestätigt.

PROFESSOR KNOCHENBRUCH wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft. Verbummelt – versumpft – verhurt – verlumpt – und verludert!

ONKEL PROBST wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft. Meiner eigenen Mutter hätte ich's nicht geglaubt, daß ein Kind so niederträchtig an seinen Eltern zu handeln vermöchte!

FREUND ZIEGENMELKER wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft. An einem Vater zu handeln vermöchte, der nun seit zwanzig Jahren von früh bis spät keinen Gedanken mehr hegt, als das Wohl seines Kindes!

PASTOR KAHLBAUCH Rentier Stiefel die Hand drückend. Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen. 1. Korinth. 12,15. – Denken Sie der trostlosen Mutter und suchen Sie ihr das Verlorene durch verdoppelte Liebe zu ersetzen!

REKTOR SONNENSTICH Rentier Stiefel die Hand drückend. Wir hätten ihn ja wahrscheinlich doch nicht promovieren können!

PROFESSOR KNOCHENBRUCH Rentier Stiefel die Hand drückend. Und wenn wir ihn promoviert hätten, im nächsten Frühling wäre er des allerbestimmtesten sitzengeblieben!

ONKEL PROBST Rentier Stiefel die Hand drückend. Jetzt hast du vor allem die Pflicht, an dich zu denken. Du bist Familienvater ...!

FREUND ZIEGENMELKER Rentier Stiefel die Hand drückend. Vertraue dich meiner Führung! – Ein Hundewetter, daß einem die Därme schlottern! – Wer da nicht unverzüglich[143] mit einem Grog eingreift, hat seine Herzklappenaffektion weg!

RENTIER STIEFEL sich die Nase schneuzend. Der Junge war nicht von mir ... der Junge war nicht von mir ...


Rentier Stiefel, geleitet von Pastor Kahlbauch, Rektor Sonnenstich, Professor Knochenbruch, Onkel Probst und Freund Ziegenmelker ab. – Der Regen läßt nach.


HÄNSCHEN RILOW wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft. Ruhe in Frieden, du ehrliche Haut! – Grüße mir meine ewigen Bräute, hingeopferten Angedenkens, und empfiehl mich ganz ergebenst zu Gnaden dem lieben Gott – armer Tolpatsch du! – Sie werden dir um deiner Engelseinfalt willen noch eine Vogelscheuche aufs Grab setzen ...

GEORG. Hat sich die Pistole gefunden?

ROBERT. Man braucht keine Pistole zu suchen!

ERNST. Hast du ihn gesehen, Robert?

ROBERT. Verfluchter, verdammter Schwindel! – Wer hat ihn gesehen? – Wer denn?!

OTTO. Da steckt's nämlich! – Man hatte ihm ein Tuch übergeworfen.

GEORG. Hing die Zunge heraus?

ROBERT. Die Augen! – Deshalb hatte man das Tuch drübergeworfen.

OTTO. Grauenhaft!

HÄNSCHEN RILOW. Weißt du bestimmt, daß er sich erhängt hat?

ERNST. Man sagt, er habe gar keinen Kopf mehr.

OTTO. Unsinn! – Gewäsch!

ROBERT. Ich habe ja den Strick in Händen gehabt! – Ich habe noch keinen Erhängten gesehen, den man nicht zugedeckt hätte.

GEORG. Auf gemeinere Art hätte er sich nicht empfehlen können!

HÄNSCHEN RILOW. Was Teufel, das Erhängen soll ganz hübsch sein!

OTTO. Mir ist er nämlich noch fünf Mark schuldig. Wir hatten gewettet. Er schwor, er werde sich halten.

HÄNSCHEN RILOW. Du bist schuld, daß er daliegt. Du hast ihn Prahlhans genannt.[144]

OTTO. Paperlapap, ich muß auch büffeln die Nächte durch. Hätte er die griechische Literaturgeschichte gelernt, er hätte sich nicht zu erhängen brauchen!

ERNST. Hast du den Aufsatz, Otto?

OTTO. Erst die Einleitung.

ERNST. Ich weiß gar nicht, was schreiben.

GEORG. Warst du denn nicht da, als uns Affenschmalz die Disposition gab?

HÄNSCHEN RILOW. Ich stopsle mir was aus dem Demokrit zusammen.

ERNST. Ich will sehen, ob sich im Kleinen Meyer was finden läßt.

OTTO. Hast du den Vergil schon auf morgen? – – – – –


Die Gymnasiasten ab. – Martha und Ilse kommen ans Grab.


ILSE. Rasch, rasch! – Dort hinten kommen die Totengräber.

MARTHA. Wollen wir nicht lieber warten, Ilse?

ILSE. Wozu? – Wir bringen neue. Immer neue und neue! – Es wachsen genug.

MARTHA. Du hast recht, Ilse! –


Sie wirft einen Efeukranz in die Gruft. Ilse öffnet ihre Schürze und läßt eine Fülle frischer Anemonen auf den Sarg regnen.


MARTHA. Ich grabe unsere Rosen aus. Schläge bekomme ich ja doch! – Hier werden sie gedeihen.

ILSE. Ich will sie begießen, sooft ich vorbeikomme. Ich hole Vergißmeinnicht vom Goldbach herüber und Schwertlilien bringe ich von Hause mit.

MARTHA. Es soll eine Pracht werden! Eine Pracht!

ILSE. Ich war schon über der Brücke drüben, da hört ich den Knall.

MARTHA. Armes Herz!

ILSE. Und ich weiß auch den Grund, Martha.

MARTHA. Hat er dir was gesagt?

ILSE. Parallelepipedon! Aber sag es niemandem.

MARTHA. Meine Hand darauf.

ILSE. – Hier ist die Pistole.

MARTHA. Deshalb hat man sie nicht gefunden![145]

ILSE. Ich nahm sie ihm gleich aus der Hand, als ich am Morgen vorbeikam.

MARTHA. Schenk sie mir, Ilse! – Bitte, schenk sie mir!

ILSE. Nein, die behalt ich zum Andenken.

MARTHA. Ist's wahr, Ilse, daß er ohne Kopf drinliegt?

ILSE. Er muß sie mit Wasser geladen haben! – Die Königskerzen waren über und über mit Blut besprengt. Sein Hirn hing in den Weiden umher.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 142-146.
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