Siebenter Auftritt

[255] Schwarz. Die Vorigen.


SCHWARZ. Noch nicht wieder zur Besinnung gekommen?

LULU links vorn. Was fang ich an ...

SCHWARZ über Goll gebeugt. Herr Medizinalrat.

LULU. Ich glaube beinah, es ist ihm Ernst.

SCHWARZ. Reden Sie doch anständig!

LULU. Er würde mir das nicht sagen. Er läßt sich von mir vortanzen, wenn er sich nicht wohl fühlt.

SCHWARZ. Der Arzt muß im Augenblick hier sein.

LULU. Arznei hilft ihm nicht.

SCHWARZ. Aber man tut doch in solchem Falle, was man kann.

LULU. Er glaubt nicht daran.

SCHWARZ. Wollen Sie sich denn nicht wenigstens umziehen?

LULU. Ja. – Gleich.

SCHWARZ. Worauf warten Sie denn noch?

LULU. Ich bitte Sie ...

SCHWARZ. Was denn ...?

LULU. Schließen Sie ihm die Augen.

SCHWARZ. Sie sind entsetzlich.

LULU. Noch lange nicht so entsetzlich wie Sie!

SCHWARZ. Wie ich?

LULU. Sie sind eine Verbrechernatur.

SCHWARZ. Rührt Sie denn dieser Moment gar nicht?

LULU. Mich trifft es auch mal.

SCHWARZ. Ich bitte Sie, jetzt schweigen Sie endlich mal!

LULU. Sie trifft es auch mal.

SCHWARZ. Das brauchten Sie einem in einem solchen Augenblick wirklich nicht noch zu sagen.

LULU. Ich bitte Sie ...

SCHWARZ. Tun Sie, was Ihnen nötig scheint. Ich kenne das nicht.

LULU rechts von Goll. Er sieht mich an.

SCHWARZ links von Goll. Mich auch ...

LULU. Sie sind ein Feigling!

SCHWARZ schließt Goll mit dem Taschentuch die Augen. Es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich dazu verurteilt bin.

LULU. Haben Sie es denn Ihrer Mutter nicht getan?[255]

SCHWARZ nervös. Nein.

LULU. Sie waren wohl auswärts?

SCHWARZ. Nein!

LULU. Oder Sie fürchteten sich?

SCHWARZ heftig. Nein.

LULU bebt zurück. Ich wollte Sie nicht beleidigen.

SCHWARZ. – Sie lebt noch.

LULU. Dann haben Sie doch noch jemanden.

SCHWARZ. Sie ist bettelarm.

LULU. Das kenne ich.

SCHWARZ. Spotten Sie meiner nicht!

LULU. Jetzt bin ich reich ...

SCHWARZ. Es ist grauenerregend. Geht nach links. Was kann sie dafür!

LULU für sich. Was fang ich an.

SCHWARZ für sich. Vollkommen verwildert!


Schwarz links, Lulu rechts, sehen einander mißtrauisch an.


SCHWARZ geht auf sie zu, ergreift ihre Hand. Sieh mir ins Auge!

LULU ängstlich. Was wollen Sie ...

SCHWARZ führt sie zur Ottomane, nötigt sie, neben ihm Platz zu nehmen. Sieh mir in die Augen!

LULU. Ich sehe mich als Pierrot darin.

SCHWARZ stößt sie von sich. Verwünschte Tanzerei!

LULU. Ich muß mich umziehen ...

SCHWARZ hält sie zurück. Eine Frage ...

LULU. Ich darf ja nicht antworten.

SCHWARZ wieder an der Ottomane. Kannst du die Wahrheit sagen?

LULU. Ich weiß es nicht.

SCHWARZ. Glaubst du an einen Schöpfer?

LULU. Ich weiß es nicht.

SCHWARZ. Kannst du bei etwas schwören?

LULU. Ich weiß es nicht. Lassen Sie mich! Sie sind verrückt!

SCHWARZ. Woran glaubst du denn?

LULU. Ich weiß es nicht.

SCHWARZ. Hast du denn keine Seele?

LULU. Ich weiß es nicht.

SCHWARZ. Hast du schon einmal geliebt –?[256]

LULU. Ich weiß es nicht.

SCHWARZ erhebt sich, geht nach links, für sich. Sie weiß es nicht!

LULU ohne sich zu rühren. Ich weiß es nicht.

SCHWARZ mit einem Blick auf Goll. Er weiß es ...

LULU sich ihm nähernd. Was wollen Sie wissen?

SCHWARZ empört. Geh, zieh dich an!


Lulu geht ins Schlafkabinett.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 255-257.
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