2. Die unverrostete Lieb

[96] 1.

Die erste Liebe rostet nicht,

Wann zwey verliebte Seelen

Ein ander in getreuer Pflicht

Zu dieser Zeit erwählen,

Da noch die zarte Gluth vielleicht

Nach keinem fremden Feuer räucht.


2.

Dann wo sie ihren süssen Stand

Bald erstlich hat erkohren,

Da ist ihr liebstes Vatterland

Da wird sie neu gebohren,

Da trifft sie Lust und Nahrung an,

Dadurch sie sich vermehren kan.


3.

So bald sie aber anderwerts

Die heissen Strahlen lencket,

Und an ein unbekanntes Hertz

Die Lust-Begierden hencket,

So kömmt sie in ein fremdes Land

Und setzt den Grundstein auff den Sand


4.

Es darff ein schlechter Wirbelwind

Ein kleines Lüfftgen rasen,

So wird das Wesen gar geschwind

In einen Klump geblasen,

Alsdann so muß der stärckste Wein

Des schärffsten Essigs Vatter seyn.[96]


5.

Den ersten Liebsten bleibt man gut

Und wann man unterweilen

Gleich anders redt und anders thut,

Wil doch der Schmertz nicht heilen,

Es bleibt ein kleiner Auffenthalt,

Der immer in dem Hertzen wallt.


6.

Es müst ein schlechtes Mädgen seyn

Das wir nicht solten lieben,

Wann sie uns zu der süssen Pein

Hat erstlich angetrieben,

Wann es bißweilen anders scheint,

Sind die Gedancken doch ihr Freund.


7.

Ich fühle meinen ersten Pfeil

Noch immer in dem Hertzen,

Der nimmt noch sein bescheiden Theil

Von meinen zarten Schmertzen,

Und ob mirs gleich nicht werden kan,

So denck ich doch mit Lust daran.


8.

Ich kan mich endlich scharff verliebt

Bey allen Mädgen stellen,

Und die ein bißgen Anlaß gibt,

Kan leicht mein Hertze fällen,

Doch keine blickt mich süsser an,

Als die ich erstlich lieb gewan.

Quelle:
Christian Weise: Der grünenden Jugend überflüssige Gedanken, Halle a.d.S. 1914, S. 96-97.
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