Neuntes Exempel.

Ein vermessener Sohn streckt nach dem Tod den Armb aus dem Grab herfür.

[62] Zu Rom war ein Jüngling, welcher sich einstens so weit vermessen, daß er seine leibliche Mutter mit Fäusten geschlagen. Es verzoge abe GOtt nicht lang mit der Straf; indem er disen Frevler mit tödtlicher Kranckheit heimgesucht. Wie nun der Krancke sahe, daß seines Aufkommens kein Hoffnung mehr übrig, begehrte er einen Beicht-Vatter, deme er unter anderm auch den begangenen Frevel mit grosser Reu gebeichtet: von welchem er zwar ledig gesprochen worden; jedoch mit dem Beding, daß er sein Mutter des begangenen Frevels halber demüthig um Verzeyhung bitten solle. Allein er starbe, ehe und bevor die Mutter könte herbey geruffen werden. Unterdessen war der Leichnam zur Erden bestattet. Aber was geschieht? des anderen Tags (O Wunder!) sahe man den Armb des verstorbenen Jünglings zum Grab ausgestrecket. Weilen man nun gemuthmasset, der Leichnam müsse etwann nicht tief genug in die Erden verscharret worden seyn, so ward denen Toden-Gräberen befohlen, ihne mit frischer Erden zu überschütten. Nun das ist geschehen. Allein weil man nichts destoweniger auch die fogende Täg den Armb zum Grab ausgestreckt sahe, und solches der Mutter des verstorbenen Jünglings zu Ohren kommen, da gedachte sie, dises Wunder geschehe villeicht darum, weil ihr der Sohn vor seinem Tod keine demüthige Abbitt gethan hätte. Deßwegen gienge sie zu dem Grab, allwo [62] sie den Sohn mit folgenden Worten angeredet: mein Sohn! es solle dir so wohl der Frevel, den du mit deinem Armb wider mich begangen, als auch was du sonsten durch deinen Ungehorsam mißhandlet verzyhen seyn: ruhe nur im Friden. Auf welche Wort der ausgestreckte Armb sich zuruck gezogen, und forthin nicht mehr ausser dem Grab gesehen worden. Erythræus in Exemplis Vitiorum.


O unerhörter Frevel! wie? ein Kind solle dörffen den Armb ausstrecken wider seine leibliche Mutter? die es mit ihren Brüsten gesogen? so oft hat heben und legen? aus- und einwinden? Wust und Gestanck müssen einnehmen? wo wird man Wort genug finden, dise Gottloßigkeit auszusprechen, den Armb solte man einem solchen Kind abhauen; das wäre der verdiente Lohn.

Es sollen auch die Kinder aus diesem Exempel lernen, wie daß GOtt haben wolle, daß wann sie sich vermessen haben, ihren Elteren eine Schmach anzuthun, sie selbige deswegen um Verzeyhung bitten sollen.

Ja es stunde allen Kindern an, daß, ehe und bevor sie zur Beicht und Communion gehen, sie ihren Elteren, die sie mit ihrem Ungehorsam so oft betrübet, eine demüthige Abbitt thäten, und Verzeyhung begehrten. Es solten auch die Eltern selbsten ihre Kinder darzu anhalten, und es ihnen nicht nachlassen. O wie vil gutes wurde daraus erfolgen?

Quelle:
Wenz, Dominicus: Lehrreiches Exempelbuch [...] ein nutzlicher Zeitvertreib als ein Haus- und Les- Buch. Augsburg 1757, S. 62-63.
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