71. Auf die singende Corinna

[163] Man schaut mit Lust, indem Corinna singend hauchet,

Wie aus aus dem schnellen Mund' ihr Athem zircklend rauchet;

Man sieht ein jedes Wort mit einer Wolck' umringt,1

Der Schall zeigt sich dem Aug', eh' er das Ohr durchdringt.

Sie singt von heisser Lieb', und ihre falsche Wincke

Die deuten jedes Wort auf mich und jeden Hauch;

Ich urtheil' aber recht: Ihr Antlitz bei der Schmincke

Und ihre Worte bey dem Rauch.


Fußnoten

1 Mit einer Wolck' umringt. Wer zur Winter-Zeit eine Person in einem kalten Gemach singen höret, der wird befinden, dass er ihren vollen Athem sehen kan, und zugleich aus diesen und den übrigen Umständen schliessen, dass ich dieses Bild nach dem Leben müsse geschildert haben.


Quelle:
Christian Wernicke: Epigramme, Berlin 1909, S. 163.
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