21. Auff ein Bild der Lucretia

[258] Schaut wie diss edle Weib ein kaltes Eisen sich

So hertzhafft steckt in ihre Brust,

Als fühlte sie nicht mehr den ungewohnten Stich[258]

Im Tod', als erstlich in der Lust:

Sie schaut die späte Wund'1 itzt zwar noch seufftzend an,

Doch solche Tugend irret nie;

Mit Schande wolte sie nicht sterben,2 so wie sie

Mit Schande jetzt nicht leben kann.


Fußnoten

1 Die späte Wund'. Weil sie diesen Schluss eh solte gefasset, und sich lieber von Tarquin haben entleiben als entehren lassen. Wesshalben denn auch einige arge Leute auf diese Gedancken gerathen, dass Lucretia so viel Unterscheid zwischen diesem erhitzten jungen Liebhaber und ihrem abgemergelten Ehmann gefunden, dass sie diesen hernachmahls nicht mit Augen sehen können, und sich also deswegen von der Welt geholffen habe.


2 Mit Schande wolte sie nicht sterben. Tarquinius dräuete ihr, dass im Fall sie ihm nicht zu willen wäre, so wolte er erstlich sie, hernach ihren Leibeignen Knecht erstechen, beyde in ein Bett legen, und hernach ausgeben, er hätte sie auff frischer That ertappet, und desswegen mit dem Tode gestraffet.


Quelle:
Christian Wernicke: Epigramme, Berlin 1909, S. 258-259.
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