38. An die Römische Mutter

Wegen unverhofften Anblick ihres todt-gemeinten Sohnes

[305] Such' in den Schmertzen nicht das Ende deiner Noht,

Es wird mit deinem Sohn dir das die Freude geben:

Beklage nicht, weil Du für todt ihn hälst, dein Leben;1

Lass ihn, dieweil er lebt, beklagen deinen Todt.


Fußnoten

1 Beklage nicht, weil du für todt ihn hälst, dein Leben. Piango la mia vita, e la sua sorte, schrieb ein Italiäner unter das Bild einer Turteltaube, welche ihren treuen Gefährten verlohren hatte. Sonst ist der Verstand dieser Uberschrifft so klar, dass er keine Auslegung bey den jenigen vonnöhten haben wird, denen nur die Geschichte bekant ist. Die, welche in der vorigen Ausgabe stat dieser zu finden, war von einer andern Art. Die Mutter, welche darinnen zweymal sterbend, und der Sohn, der als Nachlass beyder Leichen angeführet wird; eine jede Reihe, ein jedes Wort, zeigten durch eine gezwungene Sinnligkeit nur gar zu viel die Jahr an darinnen sie geschrieben. Der Welsche sagt von dergleichen Einfällen: Questo è bizarmente pensato. Und Demetr. Phaler. in seinem Buch de Elocutione nennt es malam affectationem, und führet deswegen einen an, der wunder gedachte, was er vor einen schönen Einfall gehabt hätte, als er von einem Centaurus sagte, dass er auf sich selber ritte. Centaurus equitans se ipsum. Die Worte der Uberschrifft waren wie folgt:


Sie dacht' ihr Sohn sey todt und saas entseelt vom Wahn:

Als aber sie ihn schaut' als Nachlass beyder Leichen,

So schöpffte sie nur Lufft um zweymahl zu erbleichen;

Es that die Freude das, was vor die Angst gethan.

Zu grosse Freude wirckt offt ungemeines Leid,

Und tödt die Traurige, so wie die Traurigkeit.


Nun hätte man zwar dieselbe unterdrücken können, wenn man nicht den Leser zu seiner Unterrichtung erlustigen, und demselben zugleich anzeigen wollen, wie wenig man den Leuten gefalle, wenn man denselben gar zu viel zu gefallen suchet. Unumquodque, enim genus, cùm ornatur castè pudiceque fit illustrius: cum fucatur et praelinitur, fit praestigiosum. Anl. Gell. Noct. Attic. l. 7. c. 14.


Quelle:
Christian Wernicke: Epigramme, Berlin 1909, S. 305.
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