39. Glück und Unglück

[354] Im Unglück fühlet man mehr als zu viel das Leid,

Im Glücke fühlet man mehr als zu viel den Neid;

Wenns wollgeht, wird man frech, wenns übel geht verzagt,

Dort ohne Gunst geehrt, ohn' Hülffe hier beklagt;

Im Unglück haben wir gewisslich keine Freund',

Im Glücke haben wir gewisslich manche Feind':

In diesem Zweifel hör' O Himmel mein Gebeht,

Und mache mich nicht alt zu früh, und klug zu spät'.1


Fußnoten

1 Nicht alt zu früh', und klug zu spät'. Nicht zu viel Unglück, welches vor der Zeit graue Haare machet; noch gar zu viel Glück, sondern unterweilen ein wenig Widerwärtigkeit, denn dieselbe lehret aufs Wort mercken. Setze mich in einen mittelmässigen Stand, der so weit vom Uberfluss als dem Mangel entfernet; und was die Ehre betrifft, so weit über einen Kirspel-Vogt als unter einem geheimen Raht ist, damit man diese des Lyrischen Poeten Verse mit Recht mir zueignen könne:

..Tutus caret obsoleti

Sordibus tecti, caret invidenda

Sobrius aula.


Quelle:
Christian Wernicke: Epigramme, Berlin 1909, S. 354.
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