51. Glück der Unverschämten

[435] In einem Wirtshaus die Geehrtste,

Und in der Schule die Gelehrtste;

Die Klügste nach misslungnem Raht,

Und tapferste nach einer That.

Die grösste Helden im Erdulden,

Und beste Schläffer mit viel Schulden;

Die weitste Wandrer in der Welt,

Als schärffste Spieler, ohne Geld,

Die Günstling' unversuchter Weiber,

Und der Lucretzen Zeitvertreiber;

Am frembden Tisch die Ersten satt,

Und reich, wo niemand sonst was hatt,

Die beste Heuchler, Lügner, Wäscher,

Wahrsager, Aertzt' und Zungendrescher;

Die Erst' im Welt- und Kirchenstand:

Propfeten all' im Vatterland.1


Fußnoten

1 Propfeten all' im Vatterland. Wie man im vierdten Buch dieser Uberschriffte p. 129 dem Mahler gerathen, dass er die Schamhafftigkeit mit einem Bettelstab vorstellen solte; also hat man hergegen allhier den Unverschämten nicht ohne Ursach alle Vortheile der Welt zugeeignet. So gar, dass man sie dem gemeinen Text zuwider, Propfeten in ihrem Vatterland genennet hat. Ob nun gleich dieser Spruch gemein ist, so hat man doch demselben, durch den Schwang und die Veränderung eine Sinnligkeit nach dieser des Horat. Regel gegeben.


In verbis etiam tenuis, cautusque serendis

Dixeris egregie: notum si callida verbum

Reddiderit junctura novum.


De arte Poét.


Quelle:
Christian Wernicke: Epigramme, Berlin 1909, S. 435.
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