Vorrede

Der Roman ist eine Dichtungsart, die am meisten verachtet und am meisten gelesen wird, die viele Kenntnisse, lange Arbeit und angestrengte Übersicht eines weitläuftigen Ganzen erfodert und doch selbst von vielen Kunstverwandten sich als die Beschäftigung eines Menschen verschreien lassen muß, der nichts Besseres hervorbringen kann. Ein Teil dieser unbilligen Schätzung entstund aus dem Vorurteile, daß Werke, wovon die Griechen und Römer keine Muster und worüber Aristoteles keine Regeln gegeben hat, unmöglich unter die edleren Gattungen der Dichtkunst gehören könnten: zum Teil wurde sie auch durch die häufigen Mißgeburten veranlaßt, die in dieser Gattung erschienen und lange den Ton darinne angaben; denn freilich, eine Menge zusammengestoppelter übertriebner Situationen zusammenzureihen; gezwungene unnatürliche Charaktere ohne Sitten, Leben und Menschheit zusammenzustellen und sich plagen, hauen, erwürgen und niedermetzeln zu lassen: oder einen Helden, der kaum ein Mensch ist, durch die ganze Welt herumzujagen und ihn Türken und Heiden in die Hände zu spielen, daß sie ihm als Sklaven das Leben sauer machen; ein verliebtes Mädchen durch mancherlei Qualen hindurchzuschleppen; Meerwunder von Tugend und schöne moralische Ungeheuer zu schaffen: ein solches Chaos von verschlungenen, gehäuften, unwahrscheinlichen Begebenheiten, Charaktere, die nirgends als in Romanen existierten und existieren konnten, solche Massen ohne Plan, poetische Haltung und Wahrscheinlichkeit zu erfinden, bedurfte es keines Dichtergenies und keiner dichterischen Kunst.

Der Verfasser gegenwärtigen Werkes war beständig der Meinung, daß man diese Dichtungsart dadurch aus der Verachtung und zur Vollkommenheit bringen könne, wenn man sie auf der einen Seite der Biographie und auf der andern dem Lustspiele näherte: so würde die wahre bürgerliche[5] Epopöe entstehen, was eigentlich der Roman sein soll.

Das bisher sogenannte Heldengedicht und der Roman unterscheiden sich bloß durch den Ton der Sprache, der Charaktere und Situationen: alles ist in jenem poetisch, alles muß in diesem menschlich, alles dort zum Ideale hinaufgeschraubt, alles hier in der Stimmung des wirklichen Lebens sein. Die Regeln, die man für jenes gegeben hat, paßten auch auf diesen, wenn sie nur nicht bloß willkürliche Dinge beträfen: aber die wirklichen Regeln, die sich auf die Natur, das Wesen und den Endzweck einer poetischen Erzählung gründen, sind beiden gemein: was man bisher zu Regeln des epischen Gedichts machte, ging bloß die Form und Manier an und waren alle bloß von der Homerischen abgezogen.

Die bürgerliche Epopöe nimmt durchaus in ihrem erzählenden Teile die Miene der Geschichte an, beginnt in dem bescheidenen Tone des Geschichtsschreibers, ohne pomphafte Ankündigung, und erhebt und senkt sich mit ihren Gegenständen: das Wunderbare, welches sie gebraucht, besteht einzig in der sonderbaren Zusammenkettung der Begebenheiten, der Bewegungsgründe und Handlungen. In dem gewöhnlichen Menschenleben, aus welchem, sie ihre Materialien nimmt, nennen wir eine Reihe von Begebenheiten wunderbar, die nicht täglich vorkömmt: die einzelnen Begebenheiten können und müssen häufig geschehen – denn sonst wären sie nicht wahrscheinlich –, aber nicht ihre Verknüpfung und Wirkung zu einem Zwecke. So verhält es sich auch mit dem Wunderbaren der Handlungen: wir schreiben es ihnen alsdann zu, wenn sie entweder aus einer ungewöhnlichen Kombination von Bewegungsgründen und Leidenschaften entstehen oder in dem Grade der Tätigkeit, womit sie getan werden, zu einer ungewöhnlichen Höhe steigen. Je höher der Dichter dieses Wunderbare treibt, je mehr verliert er an der Wahrscheinlichkeit bei denjenigen Lesern, die das nur wahrscheinlich finden, was in dem Kreise ihrer Erfahrung am häufigsten geschehen ist: aber dies ist eine falsche Beurteilung der poetischen Wahrscheinlichkeit, die[6] allein in der Hinlänglichkeit der Ursachen zu den Wirkungen besteht. Der Dichter schildert das Ungewöhnliche, es liege nun in dem Grade der Anspannung bei Leidenschaften und Handlungen oder in der Verknüpfung der Begebenheiten und ihrer Richtung zu einem Zwecke; und dies Ungewöhnliche wird poetisch wahrscheinlich, wenn die Leidenschaften durch hinlänglich starke Ursachen zu einem solchen Grade angespannt werden, wenn die vorhergehende Begebenheit hinlänglich stark ist, den Zweck zu bewirken, auf welchen sie gerichtet sind. Dies ist der einzige feine Punkt, der das Wunderbare und Abenteuerliche scheidet.

Der Verfasser kann unmöglich in einer Vorrede die Ideen alle entwickeln, die ihn bei der Entwerfung seines Plans leiteten, und wie er seine beiden vorhin angegebnen Absichten zu erreichen suchte: er muß es auf das Urteil der Kunsterfahrnen ankommen lassen, ob sie in seinem Werke Spuren antreffen, daß er mit Wahl und Absicht verfuhr. Er wählte eine Handlung, die den größten Teil von dem Leben seiner beiden Helden einnahm, um sich die Rechte eines Biographen zu erwerben: aber er wählte unter den Begebenheiten und Handlungen, die diesen größten Teil des Lebens ausmachten, nur solche, die auf seine Haupthandlung Beziehung oder Einfluß hatten, um ein poetisches Ganze zu machen.

Jedes poetische Ganze hat zween Teile – die Anspinnung, Verwickelung und Entwickelung der Fabel: die Exposition und stufenweise Entwickelung des Hauptcharakters oder der Hauptcharaktere. Auf diese beiden Punkte muß der Blick des Dichters bei der Anordnung beständig gerichtet sein, um zu beurteilen, welche Charaktere er nur als Nebenfiguren behandeln, wie er sie stellen und handeln lassen soll, daß sie auf die Hauptperson ein vorteilhaftes Licht werfen, ihre Charaktere durch Kontrast oder bloß graduale Verschiedenheit heben und anschaulich machen; um zu beurteilen, wie er die Szenen stellen soll, daß die vorhergehenden die folgenden mittelbar oder unmittelbar vorbereiten und alle auf den Hauptzweck losarbeiten; welche er gleichsam nur im Schatten[7] lassen, nur flüchtig und kurz übergehen und welche er in das größte Licht setzen und völlig ausmalen soll; wie er sie so ordnen soll, daß jede mit der nächsten mehr oder weniger kontrastiert, und wie er dieses Mehr oder Weniger so einrichten soll, daß er Einförmigkeit und gezwungene Symmetrie verhindert.

Um sich diese und so viele andre Pflichten zu erleichtern, vereinigte der Verfasser alle Mittel, die dem Dichter verstattet sind – Erzählung und Dialog, worunter man auch den Brief rechnen muß, der eigentlich ein Dialog zwischen Abwesenden ist. Ob er ein jedes am rechten Orte, dem poetischen Effekte gemäß, gebraucht und den eigentlichen Dialog und die Erzählung gehörig ineinander verflößt hat, kann nur der Leser beurteilen, der hierinne kompetenter Richter ist. Wer ihm Fehler anzeigt und sich so dabei benimmt, daß er mit Nachdenken gelesen und mit Einsicht geurteilt zu haben scheint, wird ihn durch eine solche, mit Gründen unterstützte Anzeige so sehr verbinden als durch den uneingeschränktesten Beifall: wer aus geheimer Abneigung gegen den Verfasser oder aus Tadelsucht auf sein Buch schlechtweg schmäht und das Geradeste am schiefsten findet, wird erlangen, was er verdient – Verachtung.

Viele Leser erlassen dem Romanschreiber gern alle mögliche poetische Vollkommenheiten, wenn er sie nur durch eine Menge seltsamer Begebenheiten unterhält, worunter eine mit der andern an Abenteuerlichkeit streitet, und die Personen recht winseln, brav küssen und oft sterben läßt: solche Leser werden bei dem Verfasser ihre Rechnung nicht sehr finden; denn er geht mit den Küssen außerordentlich knickerig um und steigt nie zu einer großen Quantität, um ihren Wert und Effekt nicht abzunutzen. Keine von seinen Personen wird bis zum Wahnsinne melancholisch, keine ist so sanft und schmelzend, als wenn sie nur ein Fluidum von Tränen wäre. Überhaupt hat der Verfasser die Ketzerei, daß er den raschen, von Sanftheit temperierten Ton in der Menschheit liebt und die butterweichen Seelen, die fast gar keine Konsistenz haben, schlechterdings entweder belachen[8] oder verachten muß; auch glaubt er daher, daß es für die Stimmung unsers Geistes zuträglicher wäre, wenn wir mit unsern Romanen wieder in den Geschmack der Zeiten zurückgingen, wo der Liebhaber aus Liebe tätig wurde und nicht bloß aus Liebe litt, wo die Liebe die Triebfeder zum Handeln, zu Beweisung großer Tugenden wurde, Geist und Nerven anspannte, aber nicht erschlaffte.

Andre Leser verlangen bloß Muster der Tugend oder, wie sie es nennen, die Menschheit auf der schönen Seite zu sehen: der Verfasser hat allen Respekt für die Tugend und möchte sie, um sich in diesem Respekte zu erhalten, nicht gern zur alltäglichen Sache machen: er findet, daß diese kostbare Pflanze in unserer Welt nur dünne gesäet ist, und will sich also nicht sosehr an dem Schöpfer versündigen und seine Welt schöner machen, als er es für gut befand.

Endlich suchen einige in einem Romane und auf dem Theater die nämliche Erbauung, die ihnen eine Predigt gibt, und wollen gern, wenn sie das Buch zumachen, das moralische Thema samt seinen Partibus wissen, das der Herr Autor abgehandelt hat. Für diese hat der Verfasser der gegenwärtigen Geschichte am meisten gesorgt; denn aus jeder Zeile können sie sich eine Moral ziehen, wenn es ihnen beliebt.

Wzl.[9]

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 5-10,12.
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