Sechstes Kapitel

[485] Vignali sahe nunmehr wohl ein, daß sie den unrechten Weg gewählt hatte: sie nahm sich also vor, dem Tugendhelde durch unaufhörliche Schmeicheleien und Gefälligkeiten unvermerkt vollends einzuflößen, was zur Liebe noch fehlte, ihm durch wollüstige Gespräche seine Einbildung noch mehr aufzuregen, ihn bei der Eitelkeit anzugreifen und vielleicht durch dieses Mittel ihm eine so heftige Leidenschaft beizubringen, daß ihn am Ende die Begierde selbst zu einem Schritt hinrisse, dem er itzt so standhaft auswich. Ulrike war durch die unglückliche Wendung, die sein Widerstand Vignalis Plane gab, ihrer Aufmerksamkeit ganz verschwunden: obgleich Herrmann anfangs nur Mittel zur Demütigung der erstern sein sollte, so wurde er nunmehr das Ziel der Unternehmung, wenigstens mußte Vignali sich erst an ihm gerochen haben, um wieder an die alte Rache gegen Ulriken zu denken.

Die neue Methode glückte besser: er war schon vorhin in Vignali verliebt, ohne daß er es vielleicht selbst wußte, und es wurde also unendlich leicht, einen Verliebten noch verliebter zu machen. Mit ebenso vielem Glücke gelang es ihr, Galanterie und Liebe für ihn zu einer Sache der Eitelkeit zu machen: sie sprach beständig davon, daß es eine von den ersten Eigenschaften eines Mannes von Lebensart und gutem Stande sei, viele Liebeshändel zu haben: Menschen, die ohne Intrige lebten, wurden verächtlich als Dummköpfe oder schlechte niedrige Leute verschrien. Auch hierzu war er schon längst hinlänglich zubereitet; denn die gewöhnliche Unterhaltung in allen Gesellschaften, wozu er kam, betraf[485] Liebesintrigen, und die Wichtigkeit, womit sich die Leute behandelten, die die meisten eignen Erfahrungen hierinne zu erzählen wußten, hatte schon mannigmal den Wunsch in ihm erregt, sich eine solche Wichtigkeit zu verschaffen. So mächtig ihn also die Ehrbegierde auf der einen Seite von der Ausschweifung abzog, sosehr trieb sie ihn auf der andern Seite zu ihr hin.

Am liebsten wäre es Vignali gewesen, wenn sie diese Eitelkeit hätte nützen können, um ihn in einen lächerlichen Liebeshandel zu verwickeln; und vielleicht hätte er es als ein Glück ansehen können, wenn er weniger vorsichtig und vernünftig gewesen wäre, um ihr nicht diese Freude zu machen: sie hätte auf seine Unkosten gelacht und mit dieser geringern Rache vorliebgenommen. Es bot sich ihr eine Gelegenheit dazu dar. Ihm gegenüber wohnte eine alte Kokette, die jeden Nachmittag am Fenster die aufgetragnen Reize trocknete, womit sie des Abends in der Gesellschaft glänzen wollte. Ihr entblößter Busen schien in der Ferne eine helleuchtende Marmorfläche: auf ihren schneeweißen Wangen blühten die Rosen der Jugend, und blaue strotzende Adern liefen über die Schläfe hin. Herrmann sah mit Verlangen nach dieser einladenden Schönheit: sie bemerkte seine Aufmerksamkeit sehr bald und suchte sie durch ihre Koketterie noch mehr auf sich zu ziehen: aus Blicken wurden Gestikulationen: ein jedes verstand schon des andern Sprache. Herrmanns galante Eitelkeit hatte nunmehr ihr Ziel gefunden: wer war glücklicher? – Vignali, die die stumme Unterredung aus den Fenstern sehr bald auskundschaftete, zog ihn damit auf und machte ihn so treuherzig, daß er sich sein Geheimnis entwischen ließ. Sie ermunterte ihn, eine so schöne Prise nicht fahrenzulassen, sondern sobald als möglich Besitz davon zu nehmen: sie entwarf ihm sogar einen Operationsplan und versprach ihren Beistand. Was die Wollust nicht vermocht hatte, vermochte beinahe der Ehrgeiz: ohne zu überlegen, wie empfindlich er abermals Vignali beleidigte, daß er die Liebe einer Unbekannten suchte, nachdem er die ihrige verschmäht hatte, ließ er sich halb in die Unterhandlung ein: Vernunft und[486] Eitelkeit stritten so gewaltig in ihm, daß er wankte und sich bald als einen Narren betrachtete, der Unsinn begehen wollte, bald als einen feinen Mann, der es in der Kunst zu leben bis zur Galanterie gebracht hatte. Während dieses Schwankens zwischen Vernunft und Torheit riß ihn sein gutes Schicksal auf einmal aus der Verblendung: er hatte sehr oft hinter dem Vorhange des nämlichen Fensters, an welchem nachmittags so eine glühende Schönheit prangte, vormittags einen runzlichten alten Totenkopf lauschen sehn, der sich sogleich zurückzog, wenn er ihn zu genau betrachtete. Eines Nachmittags führte das Schrecken, weil ein Feuergeschrei einen plötzlichen Auflauf in der Straße verursachte, Herrmanns Geliebte vor der Zeit ans Fenster, ehe die Schöpfung ihrer Schönheit vollendet war: sie besann sich zwar bald und fuhr wieder zurück, aber der Galan hatte doch ein Gesicht erblickt, das halb Tag und halb Nacht war, vom Kinne bis zu den Augen glänzend weiß und an der Stirn schwarzgelb wie ein Mulatte, auf den Wangen blühten keine Rosen und über den Augen hingen statt der schön gewölbten schwarzen Bogen ein Paar struppichte Büschel graue Haare. In der ersten Überraschung tat er die Frage an Vignali, wer die Mißgeburt sei: sie konnte sich das Vergnügen nicht versagen, ihn zu beschämen, und antwortete: »Ihre Liebe!« – »Ihre Liebe!« rief sie noch einmal und lachte seiner, als er erschrocken, verlegen, verwirrt vor ihr stand, sich gern durch Ausflüchte helfen wollte und nicht konnte, weil sie ihn nicht dazuließ.

»Nun sollen Sie Ihre Schönheit werden sehn«, sprach Vignali.» Des Morgens ist sie ein Ungeheuer, daß man die Kinder mit ihr zu fürchten machen könnte – ein abgestorbnes, gelbsüchtiges Affengesicht. Von zehn Uhr bis um eins wird ihr der ellenhohe Haarputz mit der Menge dicker Locken auf den kahlen Wirbel gebaut und an die dünnen grauen Borsten, die noch darauf stehn, angekleistert, angesteckt und angenäht. Wenn dieser chinesische Porzellanturm von Schafwolle und Ziegenhaaren aufgeführt ist, dann ißt sie eilfertig ein paar Bissen, um hurtig wieder zur Toilette zu kommen. Vor Tische wurde das Dach aufgesetzt, nun wird das beräucherte,[487] leinenfarbne Haus angestrichen. Der Busen, soweit er sichtbar ist, das ganze Gesicht und selbst Hände und Arme werden mit weißer Tünche überwerfen – da kömmt sie! Itzt trocknet sie die weiße Glasur an der Luft.« – Über eine Weile ging die kalkweiße Schönheit vom Fenster weg. – »Ah«, rief Vignali, »die Tünche hat Ritze bekommen: nun werden sie ausgefüllt und das Ganze mit der Kelle sehr zierlich geebnet; denn das ist wahre Mäurerarbeit, müssen Sie wissen.« – Einige Zeit darauf fing Vignali wieder an: »Aufgeschaut! itzt sind ihr an den eingesunknen Schläfen jugendliche blaue Adern gewachsen!«

Herrmann. Woher hat sie so schnell diese herrlichen blauen Adern bekommen?

Vignali. Sie kauft sie bei meiner Zwirnfrau: für einen Dreier kriegt sie Adern auf ein halbes Jahr, und jeden Tag hat sie neue. O die Frau ist sehr wohl daran: sie kauft ihre Reize in Büchsen und kann sich die Dosis so stark geben, wie sie es nötig hat. –

Endlich langte die schnellaufgeblühte Schönheit in dem letzten Punkte ihrer Reife mit schönen, funkelnden roten Backen an. »Sie fallen doch nicht in Ohnmacht?« sprach Vignali zu Herrmann. »So ein frisches sechzigjähriges Mädchen reißt hin. Der arme, galante Herrmann! verliebt sich in eine Schminkbüchse!«

Der arme Herrmann mußte noch unendlich mehr dergleichen Höhnereien ausstehen, und die außerordentliche Geduld, womit er sie ertrug, bewies, daß Vignali ein großes Vorrecht in seinem Herze haben mußte; denn da Lairesse dazukam und sich ins Spiel mischte, brach seine Empfindlichkeit sogleich los. Aber wie er sich seiner Torheit schämte, als er mit sich allein war! Seit der Zeit war an keine Galanterie mehr bei ihm zu gedenken: weiter konnte seine Eitelkeit nichts von ihm erhalten, als daß er sich die Miene davon gab, sich vorsichtig nirgends einließ, aber doch beständig den Schein annahm, als wenn er sich mit einer Menge einlassen wollte oder gar schon eingelassen habe.

Sonach fehlte nicht viel, daß er in dieser Schule zum Gecken[488] wurde: ein paar Gran weniger Verstand, so war der Tor fertig. Er lernte in den Abendgesellschaften und Vignalis Umgange meisterlich persiflieren, von jeder Sache im verächtlichen, spöttelnden Tone sprechen, feine Unverschämtheit in Reden und Betragen, eine Dreistigkeit, die fast an die Keckheit grenzte: seine Ehrbegierde strebte nicht mehr mit Adlerflügen zu großen rühmlichen Handlungen empor: durch gesellschaftliche Artigkeiten, durch Gefälligkeiten und Achtsamkeiten zu gefallen war itzt ihr Ziel. Die Sphäre seiner Ruhmsucht, die sonst die halbe, wo nicht die ganze Welt umfaßte, war itzt ein kleiner Kreis von Damen und Herren aus der schönen Welt, und ein gelungenes Kompliment, eine glückliche Lüge, eine beklatschte artige Bosheit, ein belachter Einfall gab ihm itzo soviel Entzücken als sonst die edlen Taten der Antonine und aller großen Männer, mit welchen ihn Schwinger bekannt machte. Gefühl des Großen, Erhabnen, Begeisternden ertrug seine Seele kaum mehr: sie war nur dem Angenehmen, dem Reizenden, dem Ergötzenden offen: aus dem stolzen, hochfliegenden Adler war ein artiger, bunter Kolibri geworden. Freilich leuchtete immer, auch selbst wenn sich Betragen und Reden dem Geckenhaften näherten, sein großer gesunder Verstand hervor, und sogar seine Narrheiten hatten eine gewisse Würde, die zu erkennen gab, daß der Mensch sich bemühte, weniger zu sein, als er sollte und konnte. Sein gutes Herz gab ihm oft empfindliche Stiche, wenn er einen ehrlichen Einfältigen zum besten hatte; aber wie sollte er es unterlassen, da es ihm den Beifall aller einbrachte, die er belustigte? Seine Beurteilung lehrte ihn oft das Geschmacklose, das Unmoralische eines Einfalls, und doch sagte er ihn, weil er belacht wurde: seine Vernunft rief ihm unaufhörlich zu – ›Du tust Torheit!‹ – und doch tat er sie. Das sind alles warnende Lehren, die nicht eher gehört werden, als bis das Schicksal wie ein Schulmeister mit einem wohlgemeinten Hiebe die Ohren öffnet.

Und Ulrike? – Die arme Vergeßne trauerte, härmte, verzehrte sich unterdessen und hoffte auf eine Gelegenheit, um ihren verirrten Heinrich von ihrer Unschuld zu überzeugen.[489]

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 485-490.
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