Viertes Kapitel

[598] In diesem Zeitraume der Spielsucht empfing er Schwingers Antwort auf seinen letzten reuevollen Brief und in demselben den Rat, seinen Studierplan noch ein halbes Jahr aufzuschieben und den Winter bei ihm auf dem Lande zuzubringen: er hatte dabei die gutgemeinte Absicht – wiewohl er sie in dem Briefe nicht angab –, den jungen, von der Liebe verführten Menschen wieder in das Gleis seiner vorigen Grundsätze durch seinen Umgang zurückzuführen und von dem Geschmacke einer zerstreuten, geräuschvollen Lebensart zu heilen: auch glaubte er ihn auf solche Weise von Ulriken abzuziehn, die ihm nach seiner Mutmaßung entweder nachgefolgt sein möchte oder doch bald nach Leipzig nachfolgen würde. Überhaupt war ihm in Herrmanns Geschichte alles zu dunkel, als daß er nicht das Schlimmste argwohnen und nicht neugierig sein sollte, sie im Zusammenhange aus seinem eignen Munde zu erfahren. Der gutmütige Mann schrieb in einem so gemilderten Tone und vergab ihm seinen unhöflichen Brief aus Berlin so aufrichtig, daß Herrmann in jeder andern Gemütsverfassung bis zu Tränen gerührt worden wäre: doch itzt fühlte er nur einen flachen Eindruck, steckte den Brief in die Tasche und legte das Reisegeld, das ihm Schwinger schickte, in seine Spielkasse: er wollte jeden Tag antworten und ihm berichten, daß er seinen Vorschlag auch diesmal ausschlagen müßte, und vergaß es jeden Tag: Zerstreuung und Spiel ließen ihm keine Zeit dazu.

Inzwischen, so leichtsinnig ihn auch Glück und Leidenschaft zu machen schienen, so wenig vermochten sie doch über Gewissen und Ehre bei ihm: nie suchte er, wie seine Freunde, von der Unerfahrenheit oder Dummheit eines Jünglings Vorteil zu ziehen: nie lockte er durch listige Kunstgriffe zum Spiel an, sondern wer freiwillig bei ihm gewinnen oder verlieren[598] wollte, war ihm willkommen, und nur das Glück entschied. Den Nachstellungen, womit Arnold junge Leute zum Spieltisch und meistens in ihr Verderben lockte, sah er anfangs mit stiller Mißbilligung zu, tadelte seinen Freund darüber, der ihn meistens dafür auslachte, und die Gewohnheit härtete allmählich seine Billigkeit so sehr ab, daß er sich an den lustigen Szenen, die oft dabei vorkamen, vergnügte, Arnolds List bewunderte und das Ungerechte, Räuberische in seinem Verfahren gar nicht mehr fühlte: er bedauerte im Herzen die unglücklichen Schlachtopfer und blieb ein stiller Zuschauer ihres Verlustes. Die Leidenschaft hat eine eigne Kasuistik: in den wenigen Stunden der Überlegung, die Herrmann übrigbehielt, machte er sich zuweilen Vorwürfe über seine itzige Lebensart, allein sie wurden sehr bald durch die herrlichsten Scheingründe niedergeschlagen. ›Was tut Arnold Böses?‹ fragte er sich in solchen nachdenkenden Stunden. ›Er verleitet freilich Leute zum Spiel, die außerdem vielleicht nicht gespielt hätten: aber läßt er es nicht lediglich auf das Schicksal ankommen, welchen Ausgang es haben soll? Wagt er nicht das Seinige mit dem Gelde des andern in gleiche Gefahr? Kann er dafür, daß das Glück die Karten für ihn günstiger fallen läßt als für den andern? Ich, der Arme, streite mit dem Reichen um das ungleich ausgeteilte Vermögen, und der Wurf eines gemalten Blattes entscheidet, ob er oder ich mehr davon besitzen soll, als ein jeder bereits hat: handelt nicht ein jeder unter uns aus gleich freier Entschließung und nach gleichem Rechte? – Aber seine Kräfte so im geschäftigen Müßiggange dahinschwinden lassen! die Tätigkeit, womit man etwas Großes, Rühmliches und allgemein Nützliches schaffen könnte, bloß zu seinem eignen Nutzen, zu Befriedigung einer schnöden Geldbegierde anwenden! – Freilich sind das nicht Grundsätze, die mir Schwinger eingeprägt hat: – aber was Schwinger? Er kennt die Welt nicht. Was tun die Menschen rings um mich anders, als daß sie miteinander um ihren Nutzen, um die Mittel des Vergnügens und Wohlseins kämpfen? Dieser arbeitet mit den Händen, jener mit dem Kopfe, um dem Reichern etwas[599] abzugewinnen: dieser handelt mit Schwefelhölzern, jener mit Juwelen, um vor der Masse des allgemeinen Reichtums einen größern Teil zu erbeuten, als er hat; und was tut ein Spieler mehr oder weniger als das? Der Kaufmann, der Handwerker, der Gelehrte sucht Kunden an sich zu ziehen: wir tun nichts mehr und nichts weniger. Ich spiele aufrichtig, ohne den mindsten Betrug, und habe einen der edelsten Zwecke dabei, der beleidigten Unschuld Genugtuung und der schmachtenden Liebe Nahrung und Unterhalt zu verschaffen: kann es bei solchen Absichten und unter solchen Umständen Schande sein, für seinen Nutzen zu leben? – Schwinger hat mich mit finstern Schulgrillen angefüllt: Vignali sagte mir das oft: je mehr ich von der Welt sehe, je mehr fühl ich, daß es ganz anders ist und sein muß, als mir sie der gute Mann vormalte. Da sollt ich immer nur zum Besten der menschlichen Gesellschaft, immer nur für meine Ehre, immer nur wegen des Bewußtseins, etwas Gutes getan zu haben, arbeiten; allem Vergnügen und Eigennutz entsagen und nur nach großen und edlen, sich selbst belohnenden Handlungen streben: Schimären! nichts als Schimären! Ich habe bei Vignali dem Vergnügen gelebt; und ich lebe hier dem Nutzen, um mir neues Vergnügen erkaufen zu können. Niemand bewegt um meinetwillen eine Fingerspitze, wenn er nicht eine Vergeltung seiner Mühe erwarten kann: jeder denkt nur auf seinen Vorteil, sein Vergnügen; und ich Tor soll mich mit leeren Gespenstern der Ehre herumjagen? soll der Grille nachlaufen, dem Irrlichte der Einbildung, dem Phantome des Bewußtseins, etwas Gutes für andre getan zu haben, da doch niemand etwas Gutes für mich tun will? – Weg mit den Träumen! Vergnügen und Nutzen sind die beiden Realitäten auf der Erde: das übrige ist Tand. Meine eingesognen Vorurteile und Hirngespinste haben mich in Berlin gegen das Vergnügen mißtrauisch gemacht: o welch ein glückseliges Leben hätt ich bei Vignali genießen können, wenn meine lichtscheuen Grundsätze nicht Wirkung getan hätten! Schwinger hat, bei aller guten Absicht, die bisherige Hälfte meines Lebens verbittert. Das Vergnügen bot sich[600] mir wie ein voller Baum mit funkelnden Früchten dar: meine hungernden Lippen wollten sich sättigen, und ängstliche Besorgnisse, wunderliche Träume von hoher Ehre und überspannter Tugend ließen mich nicht einmal kosten; diese nämlichen Grillen entzweiten mich auch mit Ulriken und trübten eine Liebe, die wie ein klares, süßes, labendes Wasser aus Herz in Herze floß: sie brachten mich der Verzweiflung und dem Gedanken des Selbstmordes nahe: noch itzt machen sie mich bedenklich und schmälern mir meine Glückseligkeit: immer hungre ich halb am Tische des Vergnügens und Nutzens, aus Furcht, mich zu überladen. – Nein! ich will die Einbildungen alle verscheuchen: erwerben und genießen sollen meine beiden Wünsche, meine beiden Beschäftigungen sein.‹

Diese veränderten Gesinnungen, die der herrschende Ton des Eigennutzes rings um ihn und größtenteils Arnolds Umgang erzeugt hatte, befolgte er getreulich: doch konnten sie die zwei Elemente seiner Denkungsart, Größe und Güte, nie verdrängen. Er dürstete nach Gewinn; und gleichwohl konnte er sich nie entschließen, einen rechtmäßigen Gewinst anzunehmen, wenn er wußte, daß der Verlierer deswegen darben mußte: er schickte ihm einen Teil seines Verlustes wieder nach geendigtem Spiele, ohne daß er wissen ließ, wer das Geld schickte, oder er lud ihn zu sich ein und verlor durch vorsätzliche Unachtsamkeit an ihn. Er wollte sammeln und sammelte auch sehr geizig; allein wenn er von einer armen Witwe hörte, die kein Holz hatte, oder von einer dürftigen Familie, die sich des Bettelns schämte und doch kümmerlich darbte, oder von einem Unglücklichen, den die Musen beinahe verhungern und erfrieren ließen, dann wurde des Zurückgelegten nicht eine Minute geschont: die Leute empfingen von ihm durch die dritte Hand, ohne zu wissen, wem sie es verdanken sollten: er sammelte also in das Faß der Danaiden und hatte bei dem größten Glücke und dem größten Geize immer nichts. Seine stille, gutherzige Wohltätigkeit machte gegen Arnolds ausschweifende Großmut und verschwenderische Freigebigkeit einen sonderbaren Kontrast, und es war[601] ein wirkliches Vergnügen zu hören, wie diese beiden Leute deswegen wechselweise den Hofmeister aneinander spielten. – »Wenn du jedem, der Geld braucht, das deinige hingibst«, sprach Arnold, »so wirst du in Ewigkeit nichts zusammenbringen. Was gehn dich denn die Leute an, denen du einen Louisdor nach dem andern zuwirfst! Du kannst hundert Jahre spielen und wirst doch nie genug beisammen haben, um dir nur ein Bauergütchen kaufen zu können.« – »Bist du nicht wunderlich?« antwortete Herrmann lachend. »Ich habe ja Geld in Menge: es fließt mir von allen Seiten zu. Wer viel hat, muß viel geben. Ich verschenke alle Tage und lege alle Tage neue Summen zurück. Das Glück ist freigebig gegen mich: so muß ich ja wohl wieder freigebig gegen andre sein, die es karg behandelt.«

»Du bist ja ein wahrer Verschwender«, sprach zu einer andern Zeit Herrmann zu seinem Freunde. »Du wirst dich durch deine übertriebne Freigebigkeit zugrunde richten. Wozu denn so ungeheure Verschwendungen an Leute, die dir's nicht einmal danken? Sie essen sich dick und rund und tun nicht einen Schritt deinetwegen, wenn du Hülfe brauchst.« – »Narr!« war Arnolds Antwort gemeiniglich, »das Geld muß vertan werden: dazu ist es gemacht. Ich kann nicht so klein leben wie alle die Knicker, die bei mir schmarotzen. Bei mir muß es groß hergehn, alles im Überflusse sein; und wenn mir's morgen einfällt, die ganze Stadt zu Tische zu bitten, so darf mir's nicht fehlen. Was willst du denn? mein itziges Leben ist ein bettelhaftes Leben. Wenn ich täglich sieben oder acht Leuten vier, auch wohl sechs Schüsseln und ein lumpichtes Dutzend Bouteillen Wein vorsetze; was ist das? – Wenn's nach meiner Neigung recht ordentlich zugehen soll, so muß ich alle Tage an zwei, drei Tafeln vierzig, fünfzig Personen speisen können; jede Mahlzeit müssen sich ein paar Leute zu Tode essen; die Champagnerflaschen müssen in einem fort springen, als wenn bei Tische kanoniert würde: in einer Stunde müssen die Gäste schon vor Trunkenheit auf der Erde herumliegen wie tote Fliegen und sich im Weine wälzen; und dabei Pauken,[602] Trompeten, Kanonen und ein halbes Dutzend Hofnarren! Das muß ein Toben und Lärmen sein, daß die Ohren zerspringen möchten: da muß gar nicht gefragt werden: ›Ist das da? kann man jenes haben?‹ – sondern ein jeder sagt: ›Ich will Tokaier; ich will Fasanen; ich will Drosseln; ich will Vogelnester; ich will Kapwein; ich will den Fisch, ich will jenen‹ – und wie er's sagt, muß es da sein, und wenn sich jemand einfallen ließ, amerikanische Schweinefüße zu fodern: das heiß ich Leben. Mein itziges Leben ist ein halber Tod; kümmerlich wie bei einem Halunken geht's bei mir zu. Wenn wir vierundzwanzig Bouteillen ausgestochen haben, ein bißchen torkeln und hie und da ein schwacher Kopf spricht wie ein Kalb oder mit der Nase auf den Tisch fällt und einschläft, das ist unser größtes Fest: ist das wohl des Redens wert? – Schwimmen muß ich im Wohlleben wie ein Sultan, wenn ich's gelten lassen soll: itzt leb ich wie Sultan, mein Hund.«

Unter der Anführung eines solchen Lehrmeisters war es kein Wunder, daß Herrmann mit dem Geschmack am geräuschvollen trunknen Wohlleben angesteckt wurde: seine tägliche Gesellschaft hielt es für eine Sache der Ehre, im Trunke viel leisten zu können: wie mochte er es also über das Herz bringen, sich durch verspottete Mäßigkeit lächerlich zu machen? Außerdem verdrängte der Wein den Rest seines vorigen Kummers vollends; der halbe Rausch, in welchem sich sein Kopf beständig befand, unterdrückte die Stimme der Vernunft und des Nachdenkens, die ihm itzt beide sehr zur Last fielen, weil sie ihm mancherlei unangenehme Dinge sagten, sobald sie zum Sprechen kamen: der Trunk begeisterte ihn mit Kraft und Tätigkeit und spannte alle Nerven seiner Phantasie an: er befand sich ungemein wohl in dem Gefühl seiner Stärke und leerte das freudenschaffende Glas desto öftrer aus, um dieses Gefühl voller und dauerhafter zu machen.

Ohne Liebe ist der Wein matt: auch folgte sie dem Trunke auf dem Fuße nach; aber keine Liebe zu einer Ulrike! nein, eine Liebe, die sich vor Ulrikens Andenken schämte und es[603] mit aller Gewalt zu vertilgen suchte! Sie wurde durch Arnolds Reden genährt, der die Ausschweifung laut predigte, und durch seine Beihülfe brach sie sehr bald in verwüstende Flammen aus.

In dem einsamsten Winkel der Stadt wohnten zwo Schwestern, die von der Arbeit ihrer Hände lebten, trocknes Brot aßen und dünnen Kaffee dazu tranken und, dieser kümmerlichen Kost ungeachtet, in der Kirche und auf dem Spaziergange mit den Reichsten in der Schönheit und Nettigkeit des Anzugs wetteiferten. Die Älteste war rasch, leichtsinnig, verbuhlt, und Arnold genoß ihre Vertraulichkeit im weitesten Umfange: seine Freigebigkeit erhielt sie beide; allein sie ließen seine Geschenke mehr ihrer Eitelkeit als ihrem Appetite zugute kommen, aßen so kümmerlich wie vorher, wenn er sie nicht bewirtete, und putzten sich alle Tage herrlich heraus. Die Jüngste war still, von angenehmem Ernste, hatte einen höchst interessanten Zug der Traurigkeit im Gesichte, und aus ihrem schüchternen Auge sprach die Liebe mit so vieler Stärke als aus ihrer Schwester ganzem Gesichte die Buhlerei. Sie gab sich wohl auch zuweilen die freche Miene, allein man merkte sehr bald, daß sie nur nachgemachte Grimasse und nicht natürlicher Ausdruck ihrer Denkungsart war: deswegen achtete sie Arnold sehr wenig, nennte sie das stille Schaf und machte sich nebst ihrer Schwester meistenteils über sie lustig. Herrmann wurde von seinem Freunde in diese Gesellschaft gezogen, damit er nicht so müßig ginge, wie dieser sagte, sondern sich etwas zu tun schaffte. Arnolds Absicht schlug nicht fehl: denn gleich bei dem ersten Blicke, den Herrmann und Lisette – welches der Name der Jüngsten war – aufeinander warfen, machten beiden den Anfang, sich etwas zu tun zu schaffen. Die Vertraulichkeit blieb nicht lange außen; allein mitten darunter mischte sich bei dem Mädchen eine Scheu, eine Zurückgezogenheit, die den neuen Liebhaber so sehr anlockte, als ihn ihre Buhlerei zurückstieß, weil sie ihr so wenig stund, daß sie unendlich dabei verlor. Arnold erkundigte sich jeden Tag bei ihm, wie weit er mit ihr gekommen wäre, und jedesmal tadelte er seine Blödigkeit.[604] »Ich will dein Geschäfte machen«, erbot er sich endlich, da ihm die Zauderei zu lange währte, brachte dem entbrannten Herrmann die günstigste Antwort und trieb ihn durch beschämende Vorwürfe an, aller Schüchternheit zu entsagen. Eigentlich war es nicht Schüchternheit bei ihm, sondern Lisette hatte ihm mit der Liebe bereits zuviel Achtung beigebracht: er liebte sie zu sehr und zu zärtlich, um ihr eine unerlaubte Zumutung tun zu können; allein Arnolds Zuredungen, die seinen Ehrgeiz verwundeten, siegten zuletzt über ihn. Lisette, von seinem Freunde vorbereitet, empfing ihn überaus ängstlich und traurig, ob man gleich das Gegenteil hätte vermuten sollen. Das Gespräch belebte sich zwar ein wenig: Herrmann, von Wein, Liebe und Ehrgeiz trunken, erlaubte sich ungewohnte Freiheiten: das Mädchen wurde immer trauriger und bis zum Weinen bänglich. Endlich, da die geduldeten Freiheiten sich bis zur Unverschämtheit verstärkten, fing Lisette an, bitterlich zu weinen. »Schonen Sie meiner!« sprach sie unterdrückter Stimme. »Meine Armut, Ihre Geschenke und Arnolds Zuredungen verleiteten mich freilich zu einem übereilten Versprechen, das ich seitdem vielfältig bereut habe. Ich bin in Ihrer Gewalt: wollen Sie mich unter keiner andern Bedingung Ihre Freigebigkeit genießen lassen, so muß ich Ihnen aufopfern ...« – Tränen erstickten den Rest ihrer Rede: Herrmann stand bestürzt und verlegen da, ohne ein Wort reden zu können.

»Sie sind zu edel, um ein armes Mädchen ins Verderben zu stürzen«, fing sie nach einer langen Pause wieder an, »und unglücklich muß ich zeitlebens sein, wenn Sie schlechter denken, als ich glaube; denn Sie können mich nicht heiraten.« –

»Warum nicht, Lisette?« unterbrach sie Herrmann, der sich indessen wieder von der Bestürzung erholt hatte. »Glauben Sie, daß ich Sie dazu nicht genug liebe?« –

»Nein«, antwortete das Mädchen, »sondern weil Sie vermutlich eine ältre Liebe mir nicht aufopfern werden.«

Herrmann. Wieso? eine ältre Liebe? – Sie sind freilich nicht die erste, die ich liebe; aber was schadet das? – Aus den[605] Augen, aus dem Sinne: wer kann alle Mädchen heiraten, die man liebt?

Lisette. Und so dächten Sie wahrhaftig nicht besser gegen unser Geschlecht? Sind Sie wirklich einer so entsetzlichen Untreue fähig? – Wollen Sie mich wirklich heiraten?

Herrmann. Vielleicht: versprechen kann ich nichts – vielleicht, vielleicht.

Lisette. Ich muß Ihr völliges Ja haben.

Herrmann. Wenn Sie mir nicht anders trauen wollen – Ja, Lisettchen! hier ist meine Hand.

Lisette. Ich nehme sie nicht an, weil Sie mich durch Ihr Versprechen hintergehn wollen. Sie können keine Hand mehr weggeben: Ihre Treue ist verpfändet. –

Sie zog darauf ein Papier aus der Tasche und überreichte es ihm. »Wenn die Verfasserin dieses Briefs befriedigt ist«, sprach sie, »dann bin ich von dieser Minute an die Ihrige.«

Herrmann erkannte wie vom Schlage gerührt Ulrikens Hand auf dem Papiere: es war einer ihrer zärtlichsten Briefe, worein er – wie es sich hernach auswies – in der Zerstreuung des Vergnügens und der Spielsucht eine Garnitur Haarputz gewickelt und Lisetten ein Geschenk damit gemacht hatte. Er fühlte sich wie von einem Abgrunde zurückgezogen: er war überführt, konnte und wollte nichts leugnen, sondern bekannte offenherzig die Falschheit, die er zu begehen willens gewesen war.

Lisette unterbrach sein Bekenntnis. »Meine Schwester«, sagte sie, »hat sich mit mir veruneinigt: ich habe zeither halb von ihrer Wohltätigkeit leben müssen, und sie rückte mir's sehr oft vor, daß sie mich Arnolds Freigebigkeit mitgenießen ließ. Ihre Vorwürfe und ihr Übermut auf Arnolds Freundschaft werden so unerträglich, daß ich mich von ihr trennen muß. Die Arbeit meiner Hände gibt mir kaum kümmerliches Brot; und ich wollte lieber verhungern, als durch meine Aufführung in Kleidern meine Eltern im Grabe beschimpfen. Sie waren reich, erzogen uns beide im Überflusse und wurden durch einen unglücklichen Bankerutt arm. Die Welt hatte an unserm Unglücke nicht genug, sondern beneidete, verleumdete[606] und verspottete uns noch obendrein, daß wir den Schein des vorigen Glücks durch unsern Anzug zu behaupten suchten: mit dem giftigsten Spotte und den hämischsten Erdichtungen haben uns die üblen Nachreden der Stadtklatscherinnen verfolgt. Verlassen Sie mich, so bin ich ganz verloren; ich werde der Dürftigkeit und Schadenfreude preisgegeben; und lieber wollt' ich in den Tod gehn oder in die größte Schandtat willigen, als der Bosheit das Vergnügen machen, daß ich ihr meine Dürftigkeit öffentlich zeigen müßte. Wollen Sie nunmehr nicht anders als für die Befriedigung Ihrer Lust mein Wohltäter werden und mich der öffentlichen Schande, der Armut entziehen, wohl! – machen Sie alles mit mir, was Ihnen gefällt! Ich muß Ihrer Begierde gehorchen; aber nur noch einen Augenblick Überlegung! Wenn Sie mich armes Mädchen einer noch größern Schande aussetzen; und wenn mich, um der Schande und den Gesetzen zu entgehn, meine Ehre zu einem Verbrechen verführte – haben Sie das Herz, die ganze künftige Glückseligkeit eines verlaßnen Mädchens einigen frohen Augenblicken aufzuopfern?«

Sie weinte, daß Träne auf Träne folgte. – »Solch ein Verworfner bin ich nicht!« rief Herrmann tief gerührt. »Nein, Lisette! so weit will ich nicht herabsinken, daß meine Liebe Ihre Tränen verachten soll. Ich war ein Leichtsinniger, der im Taumel der Verführung eine Schandtat durch Untreue und Betrug erkaufen wollte: aber ein vorsätzlicher Bösewicht kann ich nicht sein. Ich will verflucht sein, wenn ich von dieser Minute an noch ein Verlangen gegen Sie äußere, das Sie unglücklich machen könnte. Einmal Verführer der Unschuld gewesen zu sein ist genug; und das war ich, Lisette, das war ich! an dem schuldlosen Geschöpfe, das diesen Brief schrieb! An die Stirn will ich mir meine Schande ätzen lassen, daß jede, die noch einen Funken Tugend und Ehre im Herze trägt, vor mir flieht wie das Schaf vor dem Wolfe. – Solch eine Nichtswürdigkeit hätte ich mir doch nie selbst zugetraut: Kaum steh ich von einem Falle auf, so renne ich schon wieder zu einem zweiten hin. – O Verführung! Verführung![607] du bist der Löwe, der im Finstern herumschleicht! aber du sollst mich nicht mehr beschleichen, das schwör ich. Kein Tropfen Wein soll wieder über meine Zunge gehn und meine Hände keine Karte jemals wieder berühren; denn das sind meine beiden Verderber. – O Ulrike! wenn du den wüsten, taumelnden Spieler und Mädchenverführer sehen solltest, ob du deinen Herrmann noch in ihm erkennen würdest? Mit Abscheu müßtest du dich von mir wenden; und du tätest recht: ich bin deiner unwert! ein Verworfner!«

Lisette mußte alle Mühe anwenden, um ihn wieder zu beruhigen; denn des Selbstverwünschens und Bereuens wurde gar kein Ende. Nachdem es ihr gelungen war, ihn zufriedenzusprechen, tat er ihr, um seine ungerechten Zumutungen zu vergüten, die heiligste Versicherung, daß er nunmehr seine Freigebigkeit gegen sie verdoppeln werde. »Mieten Sie sich eine Wohnung!« sprach er, »ich bezahle sie: alles, was Ihre kleine Haushaltung kostet, trage ich, aus Dankbarkeit, daß Sie mich aus einer Verblendung gerissen haben, die mich in das tiefste Verderben führen konnte. Sie sind künftig meine Freundin; und sobald mich die Liebe hinreißt, mehr als Freund für Sie sein zu wollen, so verstoßen Sie mich als einen Unwürdigen, oder rufen Sie mich mit der liebenswürdigen Güte, wie itzt, zu meiner Pflicht zurück! – Aber auf einer Bitte muß ich bestehen: Arnold soll glauben, daß Sie meine Absichten begünstigen: sein Spott würde mich unbarmherzig verfolgen, wenn er erführe, was zwischen uns vorgefallen ist. Er hätte vielleicht geradeso in meinem Falle gehandelt; allein seine Höhnereien über meine Blödigkeit und Mäßigung sind ohnehin unendlich: er würde mich wie ein Kind auslachen. Daß er ja nicht eine Silbe erfährt!«

Lisette versprach, weil er schlechterdings darauf bestund, sich gegen seinen Freund einen schlimmern Schein zu geben, als sie war; und sie trennten sich beide mit dem lebhaftesten Danke und zuversichtlich zufriedner, als wenn Herrmann in ihren Armen seine Leidenschaft gestillt hätte. Seinem Vorsatze gemäß ging er nicht auf das Kaffeehaus, speiste zu Hause und hatte Langeweile: das Spiel fehlte ihm; die ganze[608] Stube war ihm zu enge: er ging in allen vier Winkeln herum wie ein Mensch, der etwas vermißt, konnte dem Triebe unmöglich widerstehen, nahm den Hut, ging an die Tür, stund – warf plötzlich den Hut auf den Tisch und setzte sich. Um sich seine Enthaltsamkeit weniger peinlich zu machen, rief er seinen Pommer zu sich in die Stube. »Kannst du spielen?« fragte er, »mit Karten, mit Würfeln oder ein ander Spiel?« – »Würfeln!« antwortete der Pommer, »würfeln ist mein Leibspiel.« – Wer war froher als Herrmann? Er würfelte mit dem Burschen, und da er ihm alle Barschaft abgenommen hatte, mußte er Weste, Beinkleider, Strümpfe und Schuhe setzen: der arme Teufel war so unglücklich, daß er seinen ganzen Anzug verlor und im Hemde und barfuß dortstehen mußte. Die Beschimpfung verdroß ihn, und weil ihm gar nichts mehr übrig war, setzte er im Zorne seine Haut; auch diese verlor er: der Junge fing an bitterlich zu weinen, als wenn er das Schicksal des Marsyas leiden sollte, und während daß Herrmann seiner Tränen lachte, trat Arnold herein. Der Spaß wurde auf Unkosten des armen Pommers eine Zeitlang fortgesetzt, der so verwegen war, auch Arnolden eine Partie anzubieten: das Glück drehte sich so schnell auf seine Seite, daß er in kurzer Zeit einen Dukaten gewann. Wie unsinnig vor Freuden sprang der Bube, den funkelnden Dukaten in der Hand, zur Tür hinaus und ließ seinen Anzug herzlich gern im Stiche.

Sogleich wurde das Gespräch auf Lisetten gelenkt: Herrmann gab sich die Miene des begünstigten Liebhabers, nahm mit vieler Verlegenheit die Glückwünsche seines Freundes an und wurde berichtet, daß heute sehr schlechtes Kommerz auf dem Kaffeehause wäre: deswegen schlug Arnold eine Partie bei ihm auf der Stube vor. Herrmann wollte sie ablehnen, aber er kam mit seinem Widerstande nicht sonderlich weit; denn eben traten vier von seinen Bekannten herein und unterstützten Arnolds Vorschlag. Sie machten, ohne lange zu fragen, Anstalt zum Spiel, Arnold besorgte den Punsch: halb ängstlich, ein getanes Gelübde so bald zu brechen, und halb erfreut, sich zum Bruche gezwungen zu sehn,[609] setzte sich Herrmann zum Spiel, brachte die Nacht bis an den frühen Morgen bei dem Punschglase und den Karten zu und verlor ein paar hundert Taler. Das war in jedem Verstande ein schlimmer Anfang zur Besserung; denn mit dem Verluste bemäntelte seine Leidenschaft den gänzlichen Aufschub derselben: er mußte nunmehr notwendig spielen, um sich das verlorne Geld wieder zu schaffen. Der Verlust wuchs jeden Tag und also auch jeden Tag die Hitze seiner Spielbegierde: das Glück ging so gewaltig mit ihm abwärts, daß er, der noch vor acht Tagen der Besitzer unendlicher Reichtümer zu sein glaubte, nicht den Pfennig mehr besaß. Das Schlimmste dabei war, daß Arnold mit ihm gleiches Schicksal hatte: einige, die ihm übelwollten, hatten eine Verschwörung wider ihn gemacht und Vermögen und Leben unter sich verpfändet, ihn zugrunde zu richten: das Glück und Arnolds Heftigkeit begünstigten ihren Plan, und in kurzer Zeit war er ganz auf dem Trocknen, mit Schulden überhäuft, nicht fähig, sie zu bezahlen, und sehr geneigt, sie zu vermehren; allein man verschob den Kredit bis auf beßre Zeiten. Was war zu tun? die offne Tafel wurde eingestellt, kein Champagner netzte mehr seine Kehle, Freunde und Schmarotzer flohen, und er mußte nebst Herrmannen äußerst zufrieden sein, daß ein gutherziger Speisewirt ihnen täglich eine schlechte Portion Fleisch auf Kredit zukommen ließ. Kleider und Wäsche war schon verkauft und nichts mehr übrig, als bei der Nacht sich unsichtbar zu machen: der Entschluß war wirklich gefaßt, und nur die nahe Neujahrsmesse sollte entscheiden, ob er ausgeführt werden müßte. Unterdessen stimmte Arnold seine Denkungsart herab und arbeitete im kleinen: er schlich in den Dorfschenken herum und übertölpelte zuweilen ein paar junge Bauernkerle, denen er mit dem Würfel wenigstens so viel abgewann, um den Kredit des Speisewirts bei Atem zu erhalten. Herrmann fand freilich diese Lebensart äußerst erniedrigend: allein was vermag nicht die Not? Wenn niemand um Geld spielen wollte, geschah es um Stecknadeln, einen Krug Bier, eine Mahlzeit, und an einem Sonntage gewannen sie einem Bauer seinen ganzen[610] Hühnerstall ab. Sie trieben sich einige Zeit auf dem Lande herum, und alles, was nur in Geld gesetzt werden konnte, wurde zum Einsatz genommen: Herrmann war zwar bei den häufigen Betrügereien, wodurch Arnold sich sein Gewerbe ergiebig machte, nur Zuschauer, höchstens Gelegenheitsmacher, allein er erschien sich selbst als Mitgehilfe bei einer solchen Kaperei in einem so verächtlichen Lichte, daß er beschloß, die Messe abzuwarten und dann heimlich seinen Freund zu verlassen, wenn sie das Glück nicht wieder in bessere Umstände versetzte.

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 598-611.
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