Erster Auftritt.

[29] Der Schauplatz ist in des Jeronymo Zimmer. Jeronymo in einem Lehnstuhl.

Jeronymo, der Bischof.


JERONYMO. Ich bin erfreut, mein liebster Bruder, dass ich Sie so wohl für meinen Grandison gesinnet sehe. Aber wie sollte es möglich seyn, diesen Mann nicht zu lieben? Wenn ist jemahls an jeder Tugend, jeder grossen und liebenswürdigen Eigenschaft seines gleichen gewesen? – Glauben Sie mir, Bruder, ich fühle den ganzen Stolz unsers Hauses in mir; aber ich bin darum nicht minder überzeugt, dass es uns eine Ehre wäre, einen solchen Mann den unsrigen zu nennen.

DER BISCHOF. Wäre er ein Katholik, liebster Jeronymo, so würde ich Ihrer Meinung seyn. Aber bedenken Sie –[29]

JERONYMO. O, ich mag nichts denken, das meinem liebsten Wunsche zuwider ist! Mein ganzes Herz ist auf ihn gerichtet, und wenn ich wieder zu leben wünsche, so ist es, um meine Schwester in den Armen meines Freundes glücklich zu sehen. Ich bin voller Hoffnung. Er kann nicht unerbittlich seyn. Wir sind ihm das erste Mahl nicht begegnet, wie er es verdiente. Wir glaubten ihm eine unverdiente Ehre zu erweisen, da wir ihm Klementinen unter unsern Bedingungen anboten; wir beleidigten seinen Stolz. Aber wenn wir zeigen, dass wir ihn zu schätzen wissen, wenn seine Grossmuth durch die unsrige gereitzt wird, wenn die Bitten seines Jeronymo, wenn die noch rührendern Bitten, die Blicke, die Thränen seiner Klementina sein Herz zerschmelzen –

DER BISCHOF. Und was wird denn aus dem Grafen von Belvedere werden?

JERONYMO. Wenn ich den Chevalier nicht kennte, so wäre der Graf der erste, den ich zu meinem dritten Bruder wählen wollte.

DER BISCHOF. Er ist aus einem Hause, das dem unsrigen an Ansehen und Reichthum gleich ist; er ist ein Katholik; er hat Verdienste; er ist liebenswürdig; er betet Klementinen an –

JERONYMO. Aber Klementina hat kein Herz für ihn. Das Schicksal, liebster Bruder, das Schicksal selbst hat sie meinem Grandison bestimmt.[30]

DER BISCHOF. Es wird sich bald aufklären. Dieser Morgen ist zur ersten Zusammenkunft zwischen ihnen angesetzt. Wenn seine Gegenwart einen erheiternden Strahl in das entsetzliche Dunkel wirft, das ihre Seele so lange umwölkt, wenn sich ein Schimmer von wiederkehrender Vernunft bey ihr zeigt, so muss ich selbst glauben, der Himmel – Ich höre jemand. Es ist Grandison.


Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Supplemente Band 5, Leipzig 1798, S. 29-31.
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Klementina von Porretta
C. M. Wielands sämtliche Werke: Supplement, Band V. Klementina von Porretta; Pandora; Die Bunkliade; Auszüge aus Jakob Forsters Reise um die Welt