Sechster Auftritt.

[39] Die Markgräfin, die Vorigen.


JERONYMO. Sie kommen ohne meine Schwester, gnädige Frau?

DIE MARKGRÄFIN. Ach, Jeronymo! Deine arme Schwester – kommt nicht! Sie ist wieder in ihr voriges Stillschweigen verfallen. Sie antwortete mir auf keine Frage, die ich an sie that. Sie sass unbeweglich wie eine Bildsäule, den Kopf auf ihren Arm gestützt. Ihre Seele schien ganz in sich selbst zurückgezogen. Sie empfand meine Thränen nicht, die auf ihre Wangen tröpfelten. Endlich nannte ich ihren Jeronymo. Dieser Nahme weckte sie. Sie schlug ihre Augen auf, deren heitern Glanz Trübsinn und Schwermuth so lange schon ausgelöscht haben. Ein Blick, der meine Seele durchbohrte, und ein Seufzer, in welchem sie die ihrige auszuhauchen schien, war alles, was sie mir antwortete. Ich konnte es nicht länger aushalten – Ach, Grandison! was für ein Schicksal liegt auf uns! – Meine Klementina ist unschuldig; Sie sind ein rechtschaffner Mann; ich glaube, ich hoffe, wir sind alle rechtschaffen. Warum, warum müssen wir denn so sehr unglücklich seyn? – Sie,[40] Herr Pater Mareskotti, Sie sind nicht nur ein frommer Mann, Sie sind ein Heiliger; Ihr verdienstliches Gebet sollte schon allein vermögend gewesen seyn, uns vor einem Kreuze zu bewahren, welches zu schwer ist ertragen zu werden!

PATER MARESKOTTI. Eben darum, weil es Ihnen aufgelegt ist, wird es erträglich seyn. Es ist, wie Sie sagten, gnädige Frau, ein Schicksal, ein unbegreifliches Schicksal in dieser Sache. Doch die Züchtigungen des Himmels werden allezeit durch ihre Folgen gerechtfertiget. Vielleicht, (o dürfte ich mich dieser Hoffnung überlassen! – Aber der allmächtigen Gnade ist alles möglich!) Vielleicht ist die Bekehrung dieses vortrefflichen Mannes die Absicht und die Folge der Widerwärtigkeiten, die Ihnen jetzt so unerträglich scheinen.

DER MARKGRAF. Ein Engel spricht aus Ihrem Munde, mein ehrwürdiger Vater! Möcht' es eine gute Vorbedeutung seyn! – Ja, Herr Grandison, wenn dieses die Folge unsers Unglücks wäre, so würde ich mich für alles, was ich seit einem Jahr gelitten habe, dreyfach belohnt halten.

JERONYMO. Und wir hätten Hoffnung, wieder die glücklichste Familie zu werden.


Grandison antwortet auf alles diess mit Stillschweigen, und den äusserlichen Merkmahlen einer grossen Gemüthsbewegung und Verlegenheit.
[41]

DIE MARKGRÄFIN. Sie schweigen, Herr Grandison? – Sie geben uns keine Hoffnung? – Ach, wie können Sie – Aber nein! Es ist unmöglich, dass Sie dem Anblick dieser schuldlos Unglücklichen widerstehen! Sie haben sie noch nicht gesehen! Wie sehr werden Sie erstaunen, sie so verändert zu finden! –


Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Supplemente Band 5, Leipzig 1798, S. 39-42.
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Klementina von Porretta
C. M. Wielands sämtliche Werke: Supplement, Band V. Klementina von Porretta; Pandora; Die Bunkliade; Auszüge aus Jakob Forsters Reise um die Welt