Dreyzehnter Auftritt.

[50] Grandison, die Vorigen.


GRANDISON. Verzeihen Sie, gnädige Frauen! Ihre Erlaubniss macht mich so kühn – Wie befindet sich die theure Gräfin Klementina?

KLEMENTINA steht auf, da sie Grandison erblickt, und schaut aufmerksam nach ihm – Darauf wirft sie ihre Arme um Kamillens Hals und verbirgt ihr Gesicht, als ob sie sich schämte. Alsdann wirft sie wieder einen verschämten Blick auf Grandison, dann auf ihre Mutter, wechselsweise, als ob sie nicht schlüssig werden könnte. Endlich geht sie mit sachten Schritten gegen ihn, kehrt aber gleich wieder um, schlägt einen Arm um ihrer Mutter Hals, und sieht Grandison mit einer holdseligen Unschlüssigkeit an.

GRANDISON indem er sich zu ihren Füssen wirft. Sehen Sie, gnädige Gräfin, den Mann, den Sie ehemahls mit dem Nahmen Ihres vierten Bruders beehrten – Kennen Sie den dankbaren[50] Grandison nicht mehr, den Ihre ganze Familie mit ihrer Achtung beehrt hat?

KLEMENTINA. O ja, ja! ich kenne ihn. – Aber wo sind Sie diese ganze Zeit gewesen?

GRANDISON. In England, gnädige Gräfin, und ich bin erst kürzlich gekommen, Sie und Ihren Jeronymo zu besuchen.

KLEMENTINA. Der gute Jeronymo! – Ich habe ihn lange nicht gesehen. – Und Sie lieben ihn? Sie kommen ihn zu besuchen? Das ist sehr gütig!

DIE MARKGRÄFIN. Der Chevalier, ist der beste, der grossmüthigste Mann, mein Kind!

KLEMENTINA. Denken Sie das, gnädige Mama? – Aber mich dünkt, Sie sind sehr lange weggewesen, Chevalier! Warum kamen Sie nicht eher?

GRANDISON. Es war unmöglich, gnädige Gräfin! Ich hoffe, Sie halten mich keiner Undankbarkeit fähig. Das sehnlichste Verlangen meines Herzens ist allezeit gewesen, Sie und Ihren Jeronymo glücklich wieder zu sehen.

KLEMENTINA. Glücklich? – O das kann niemahls, niemahls seyn! – Aber setzen Sie Sich zu mir, Herr Grandison, ich habe Ihnen vieles zu sagen, sehr vieles –

DIE MARKGRÄFIN. Wie entzücken mich diese Sonnenblicke der wiederkehrenden. Vernunft! – Rede, liebstes Kind. Was hast du dem Chevalier zu sagen?[51]

KLEMENTINA. Sie müssen wissen, Herr Grandison – Was wollte ich doch sagen? – Ach, mein Kopf!


Sie legt die Hand auf die Stirne.


Wohl! – Aber Sie müssen mich jetzt verlassen – Es ist etwas nicht recht – Verlassen Sie mich! – Ich kenne mich selbst nicht.

GRANDISON. Ich will mich entfernen, weil Sie es befehlen.

DIE MARKGRÄFIN. Bleiben Sie noch, Chevalier! Es ist eine Fantasie, die ihr bald wieder vergehen wird.

KLEMENTINA. sitzt eine Weile mit niedergeschlagenen Augen, wie in tiefen Gedanken; dann steht sie plötzlich auf, als ob sie fortgehen wollte.

DIE MARKGRÄFIN. Wo willst du hingehen, mein Kind?

KLEMENTINA. Ich will zu dem Pater Mareskotti gehen – Aber hier ist ja Kamilla. – Gehen Sie, Kamilla, suchen Sie den Pater Mareskotti – Melden Sie ihm –


Sie hält inne, als ob sie sich besinne.


Melden Sie ihm, ich habe ein Gesicht gesehen – Er solle für uns alle beten!


Kamilla geht.

Nach einer kleinen Pause fährt sie fort.


Sie weinen, liebste Mama? – Sie sehen mich traurig an, Herr Grandison? Sie verbergen Ihr Gesicht? Betrübe ich Sie? – O ich Unglückselige![52] warum lebe ich noch! Ich mache alle unglücklich, die mich kennen – Und doch liebe ich alle Menschen, – auch die grausame unerbittliche Laurana, die kein Erbarmen mit mir hatte, ob ich sie gleich niemahls beleidiget hatte. – Mir ist nicht wohl, gar nicht wohl; ich muss in mein Zimmer gehen – Folgen Sie mir nicht, Chevalier. Ihre Hand, gnädige Mama! Vergeben Sie Ihrem Kinde, haben Sie Mitleiden mit ihm! – O Sie wissen nicht, was meinem armen Kopf ist! Ich bin nicht mehr ich selbst, nicht mehr die Klementina, die Sie liebten, die jedermann liebte – Ach, Grandison!

DIE MARKGRÄFIN. Du bist meine geliebte, meine theure Klementina; du bist es allezeit gewesen, und jetzt mehr als jemahls. Ich will dich in dein Zimmer führen. Du hast Ruhe vonnöthen. Leben Sie wohl, Chevalier, wir werden uns bald wieder sehen.


Klementina sieht Grandison mit einem zärtlich traurigen Blick an, und geht mit ihrer Mutter ab.


Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Supplemente Band 5, Leipzig 1798, S. 50-53.
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