Vierter Auftritt.

[118] Klementina allein.

Sie wirft sich nachdem sie etliche Mahl in tiefen Gedanken auf und ab gegangen, in grosser Unruhe und Beängstigung auf einen Sofa.


O warum musste ich ihn sehen? Warum musste ich ihn sehen? Warum mussten einem Manne, der nicht mein Bruder seyn konnte, der Nahme[118] und die Rechte eines Bruders gegeben werden? Warum musste sein untadeliger Werth meine Liebe zugleich entflammen und rechtfertigen? – Unglückselige! wen beschuldigest du? Klage deine eigene Schwachheit an! Was zwang dich zu reden? Warum liessest du nicht dein trauriges Geheimniss, in ewiges Stillschweigen gehüllt, an deiner stummen Brust nagen? – O dass ich schon bey denen wäre, die im Grabe schlummern! O dass meine Seele schon entfesselt, schon in jene Welt hinüber gerettet wäre, wo die Tugend nicht mehr kämpfen muss, und die Glückseligkeit nicht an ewiges Elend grenzt! – Doch sie kommt, ich fühle es, sie nähert sich, die glückliche Stunde – meine Tage laufen zum Ende – Trostvolle Hoffnung! du giebst meiner Seele ihre ganze Stärke wieder!


Sie steht auf.


– Ja! ich will gross, ich will wie eine Unsterbliche handeln! Und Du, dem ich dieses Opfer bringe, Du wirst mich stärken! – Aber, o bester, liebenswürdigster unter den Männern! soll ich dir entsagen, soll ich dich auf ewig von mir verbannen, ohne dass du wissest, wie sehr deine Klementina dich geliebt hat? Wirst du es auch glauben, wirst du es begreifen können, dass nur eine Liebe, wie die ihrige, ein menschliches Geschöpf fähig machen konnte, das zu thun, was ich thun will? – Ja, Geliebter, nur damit ich[119] dich ohne Vorwürfe meines Herzens, ohne Gefahr meiner Seele, lieben könne, entsage ich dem Glück, die Deinige zu seyn! Eine bessere Welt soll uns wiedergeben, was uns diese vorenthält! Diess sollen meine unermüdeten Gebete und meine glühenden Thränen vom Himmel erbitten! – Mich dünkt ich bin nun ruhiger – Ja, ich bin es, ich will Kamillen rufen – Kamilla!


Kamilla erscheint.


Sagen Sie dem Herrn Grandison, dass ich ihn erwarte, –


Kamilla entfernt sich wieder.


– Nun wird er kommen! Nun soll ich ihm sagen – Ach! niemahls, niemahls werden es meine Lippen aussprechen können – O ihr Engel und ihr Heiligen des Himmels alle, stehet mir bey! Ihr Zeugen meiner geheimen Thränen und des schmerzhaften Kampfes, den meine Seele gekämpft hat, verlasset mich nicht! Verlasset mich nicht in diesem furchtbaren Augenblicke!


Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Supplemente Band 5, Leipzig 1798, S. 118-120.
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Klementina von Porretta
C. M. Wielands sämtliche Werke: Supplement, Band V. Klementina von Porretta; Pandora; Die Bunkliade; Auszüge aus Jakob Forsters Reise um die Welt