Achtes Capitel

Psyche beschlieft ihre Erzählung

[395] Unsre Fahrt war einige Tage glücklich, außer daß ein Wind der uns westwärts trieb, unsre Reise ungewöhnlich verlängerte. Allein am Abend des sechsten Tages erhob sich ein heftiger Sturm, der uns in wenigen Stunden wieder einen großen Weg zurück machen ließ; unsre Schiffer waren endlich so glücklich, eine von den unbewohnten Cycladen zu erreichen, wo wir uns vor dem Sturm in Sicherheit setzten. Wir fanden in eben der Bucht wohin wir uns geflüchtet hatten, ein anders Schiff liegen, worin sich eben diese Cilicier befanden, denen wir izt zugehören. Sie hatten eine griechische Flagge aufgesteckt, sie grüßten uns, sie kamen zu uns herüber, und weil sie unsre Sprache redeten, so hatten sie keine Mühe uns so viele Märchen vorzuschwatzen, als sie nötig fanden, uns sicher zu machen. Nach und nach wurde unser Volk vertraulich mit ihnen; sie brachten etliche große Krüge mit Cyprischem Weine, wodurch sie in wenig Stunden alle unsre Leute wehrlos machten. Sie bemächtigten sich hierauf unsers ganzen Schiffes, und begaben sich, so bald sich der Sturm in etwas gelegt hatte, wieder in die See. Bei der Teilung wurde ich einmütig dem Hauptmann der Räuber zuerkannt. Man bewunderte meine Gestalt ohne mein Geschlecht zu mutmaßen. Allein diese Verborgenheit half mir nicht so viel, als ich gehofft hatte. Der Cilicier, den ich für meinen Herrn erkennen mußte, verzog nicht lange, mich mit einer ekelhaften Leidenschaft zu quälen. Er nannte mich Ganymedes, und schwur bei allen Tritonen und Nereiden, daß ich ihm sein müßte, was dieser trojanische Prinz dem Jupiter gewesen sei. Wie er sah, daß seine Schmeicheleien ohne Würkung waren, nötigte er mich zuletzt, ihm zu zeigen, daß ich mein Leben gegen meine Ehre für nichts halte. Dieses verschaffte mir bisher einige Ruhe, und ich fing an, auf ein Mittel meiner Befreiung zu denken. Ich gab dem Räuber zu verstehen, daß ich von einem ganz andern Stande sei, als mein Sclavenmäßiger Anzug zu erkennen gäbe, und bat ihn aufs inständigste mich nach Athen zu führen, wo er für meine Erledigung erhalten würde,[395] was er nur fodern wollte. Allein über diesen Punkt war er unerbittlich, und jeder Tag entfernte uns weiter von diesem geliebten Athen, welches, wie ich glaubte, meinen Agathon in sich hielt. Wie wenig dachte ich, daß eben diese Entfernung, über die ich so untröstbar war, uns wieder zusammen bringen würde? Aber, ach! in was für Umständen finden wir uns wieder! Beide der Freiheit beraubt, ohne Freunde, ohne Hülfe, ohne Hoffnung befreit zu werden; verurteilt ungesitteten Barbaren dienstbar zu sein. Die unsinnige Leidenschaft meines Herrn wird uns so gar des einzigen Vergnügens berauben, das unsern Zustand erleichtern könnte. Seitdem ihm meine Entschlossenheit die Hoffnung benommen seinen Endzweck zu erreichen, scheint sich seine Liebe in eine wütende Eifersucht verwandelt zu haben, die sich bemüht, dasjenige was man selbst nicht genießen kann, wenigstens keinem andern zu Teil werden zu lassen. Der Barbar wird dir keinen Umgang mit mir verstatten, da er mir kaum sichtbar zu sein erlaubt. Doch die ungewisse Zukunft soll mir nicht einen Augenblick von der gegenwärtigen Wonne rauben. Ich sehe dich, Agathon, und bin glücklich. Wie begierig hätte ich vor wenigen Stunden einen Augenblick wie diesen mit meinem Leben erkauft! Indem sie dieses sagte, umarmte sie den glücklichen Agathon mit einer so rührenden Zärtlichkeit, daß die Entzückung, die ihre Herzen einander mitteilten, eine zweite sprachlose Stille hervorbrachte; und wie sollten wir beschreiben können, was sie empfanden, da der Mund der Liebe selbst nicht beredt genug war, es auszudrucken?

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Christoph Martin Wieland: Werke. Band 1, München 1964 ff., S. 395-396.
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