Drittes Capitel
Psychologische Betrachtungen

[21] Man wird sich um so weniger wundern, daß die Einbildungs-Kraft des Don Sylvio von einer so wunderbaren Erziehung einen seltsamen Schwung bekommen mußte, wenn wir sagen, daß eine ungemeine Empfindlichkeit, und, was unmittelbar damit verbunden ist, eine starke Disposition zur Zärtlichkeit unter die Gaben gehörte, womit ihn die Natur bis zum Übermaß beschenke hatte.

Junge Leute von dieser Art lieben überhaupt alle Vorstellungen, welche lebhafte Eindrücke auf ihr Herz machen, und Leidenschaften erwecken, die, in einem leichten Schlummer liegend, bereit sind von dem kleinsten Geräusch aufzufahren.

Kommt dann noch hinzu, daß sie fern von der Welt, in einer ländlichen Einsamkeit und Einfalt, unter den natürlichen Vergnügungen des Landlebens und frei von den Arbeiten desselben erzogen werden; So erhalten die wunderbaren und passionierten Vorstellungen eine verdoppelte und desto stärkere Gewalt über ihr Herz, je geschäftiger die Phantasie in solchen Umständen[21] zu sein pflegt, das Leere auszufüllen, so die beständige Einförmigkeit der Gegenstände, die sich den Sinnen darstellen, in der Seele zurückläßt. Unvermerkter Weise verwebt sich die Einbildung mit dem Gefühl, das Wunderbare mit dem Natürlichen und das Falsche mit dem Wahren. Die Seele, welche nach einem blinden Instincte Schimären eben so regelmäßig bearbeitet als Wahrheiten, bauet sich nach und nach aus allem diesem ein Ganzes, und gewöhnt sich an, es für wahr zu halten, weil sie Licht und Zusammenhang darin findet, und weil ihre Phantasie mit den Schimären, die den größten Teil davon ausmachen, eben so bekannt ist als ihre Sinnen mit den würklichen Gegenständen, von denen sie ohne sonderliche Abwechslung immer umgeben sind.

In diesem Falle befand sich der Jüngling, welcher der Held unserer Geschichte sein wird. Die natürliche Lauterkeit seiner Seele war des Argwohns, ob er etwan betrogen werde, unfähig. Seine Einbildung faßte also die schimärischen Wesen, die ihr die Poeten und Romanen-Dichter vorstellten, eben so auf, wie seine Sinnen die Eindrücke der natürlichen Dinge aufgefasset hatten. Je angenehmer ihm das Wunderbare und Übernatürliche war1, desto leichter war er zu verführen, es würklich zu glauben; zumal da er in die Möglichkeit auch der unglaublichsten Dinge keinen Zweifel setzte. Denn für den Unwissenden ist alles möglich. Solchergestalt schob sich die poetische und bezauberte Welt in seinem Kopf an die Stelle der würklichen, und die Gestirne, die elementarischen Geister, die Zauberer und Feen waren in seinem System eben so gewiß die Beweger der Natur, als es die Schwere, die Anziehungs-Kraft, die Elasticität, das electrische Feuer, und andere natürliche Ursachen in dem System eines heutigen Weltweisen sind.

Die Natur selbst, deren anhaltende Beobachtung das sicherste Mittel gegen die Ausschweifungen der Schwärmerei ist, scheint auf der andern Seite durch die unmittelbaren Eindrücke, so ihr majestätisches Schauspiel auf unsre Seele macht, die erste Quelle derselben zu sein.

Das angenehme Grauen, so uns beim Eintritt in den dunkeln[22] Labyrinth eines dichten Gehölzes befällt, beförderte ohne Zweifel den allgemeinen Glauben der ältesten Zeiten, daß die Wälder und Haine von Göttern bewohnt würden. Der süße Schauer, das Erstaunen, die gefühlte Erweiterung und Erhöhung unsers Wesens, die wir in einer heitern Nacht beim Anblick des gestirnten Himmels erfahren, begünstigte vermutlich den Glauben, daß dieser schimmervolle, mit unzählbaren nie erlöschenden Lampen erleuchtete Abgrund eine Wohnung unsterblicher Wesen sei.

Aus dieser Quelle kommt es vermutlich, daß die Landleute, denen ihre Arbeiten keine Zeit lassen, die verworrenen Eindrücke, so die Natur auf sie macht, zu deutlicher Erkenntnis zu erhöhen, überhaupt aberglaubischer als andre Leute sind; daher die körperlichen Geister, womit sie die ganze Natur angefüllt sehen; daher die unsichtbare Jagden in den Wäldern, die Feen, die des Nachts auf den Fluren im Kreise tanzen, die freundlichen und die boshaften Kobolte, der Alp, der die Mädchen drückt, die Berg-Geister, die Wasser-Nixen, die Feuer-Männer, und wer weiß, wie viel andre Hirn-Gespenster, von denen sie so vieles zu erzählen wissen, und deren Würklichkeit bei ihnen so ausgemacht ist, daß man sie nicht leugnen kann, ohne in den Augen der meisten von ihrer Classe entweder albern oder gottlos zu scheinen.

Nehmen wir nun alle diese Umstände zusammen, welche sich vereinigten, der romanhaften Erziehung unsers jungen Ritters ihre volle Kraft zu geben, so werden wir nicht unbegreiflich finden, daß er nur noch wenige Schritte zu machen hatte, um auf so abenteurliche Sprünge zu geraten, als seit den Zeiten seines Landsmanns, des Ritters von Mancha, jemals in ein schwindlichtes Gehirn gekommen sein mögen.

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– – – – ut omne

Humanum genus est avidum nimis auricularum. Lucret

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Werke. Band 1, München 1964 ff., S. 21-23.
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