Zwölftes Capitel
Unmaßgebliche Gedanken des Autors

[54] Wenn wir diese Geschichte ein halb Dutzend Jahrhunderte früher hätten schreiben können, so würde dieses Capitel überflüssig gewesen sein. Es gibt Zeiten, wo dasjenige, was man[54] Wunderdinge nennt, so alltäglich ist, daß die Leute nichts wunderlichers finden als eine natürliche Begebenheit. Allein in denjenigen, worin wir leben, scheint die entgegengesetzte Denkungs-Art so sehr überhand genommen zu haben, daß wir kaum hoffen dürfen, unter allen, die diese Geschichte vielleicht lesen werden, auch nur einen einzigen zu finden, den wir bereden könnten, daß in dem vorigen Capitel nichts erzählt worden sei, was nicht alle Tage begegnen könne. Seit der Erfindung der Vergrößerungs-Gläser haben die unsichtbaren Dinge ein böses Spiel, und man braucht nur ein Geist zu sein, um alle Mühe von der Welt zu haben, die Leute von seinem Dasein zu überzeugen. Kurz, wir möchten sagen was wir wollten, so würde uns doch niemand glauben, daß eine Fee Radiante sei, oder daß der blaue Papilion eine Princessin, und ein Zahnstocher jemals ein grüner Zwerg gewesen sei.

Bei solchen Umständen halten wir für das beste, wenn wir nur frei gestehen, daß wir selbst von allem, was Don Sylvio seinem getreuen Pedrillo erzählt hat, eben so wenig glauben als von den Gesichten unsrer frommen Landsmännin, der Schwester Maria von Agreda, oder von den Erzählungen vom roten Mützchen und irgend einem andern Märchen, womit uns ehmals unsre geliebte Amme einzuschläfern pflegte.

Dem ungeachtet nötigt uns die Wahrhaftigkeit, deren wir uns im Lauf dieser ganzen Geschichte befleißigen, zu versichern, daß Don Sylvio in seiner ganzen Erzählung nichts gesagt habe, was nicht in gewissem Sinn eben so würklich war, als es die meisten andre Geschichten aus der Geisterwelt sind.

Um dieses scheinbare Paradoxum zu begreifen, müssen wir uns erinnern, daß es eine zweifache Art von Würklichkeit gibt, welche in concreto nicht allemal so leicht zu unterscheiden ist, als manche Leute denken.

So wie es nämlich allen Egoisten zu trotz, Dinge gibt, die würklich außer uns sind, so gibt es andre, die bloß in unserm Gehirn existieren. Die erstern sind, wenn wir gleich nicht wissen, daß sie sind; die andre sind nur, in so fern wir uns einbilden, daß sie seien. Sie sind für sich selbst nichts, aber sie machen auf denjenigen, der sie für würklich hält, die nämliche Würkung, als ob sie etwas wären; und ohne daß die Menschen sich deswegen[55] weniger dünken, sind sie die Triebfedern der meisten Handlungen des menschlichen Geschlechts, die Quelle unsrer Glückseligkeit und unsers Elends, unsrer schändlichsten Laster und unsrer glänzendesten Tugenden.

Welche Fee oder Zauber-Palast ist schimärischer als dieser Nachruhm, von welchem doch die größten Männer gestanden haben, daß er der Endzweck ihrer schönsten Unternehmungen gewesen sei? Alexander, der den fabelhaften Zug des Bacchus nach Indien realisierte, und sich in tausend freiwillige Gefahren stürzte, damit die Athenienser von ihm zu reden hätten, zog einer eben so unwesentlichen Schimäre nach als Don Sylvio, da er auszog um den blauen Papilion zu entzaubern; in den Augen eines kalten Zuschauers der menschlichen Handlungen ist der erste ein so großer Tor als der andere, und dieser hat wenigstens den Vorzug, daß seine Schimäre keinen Schaden tat, da die Schimäre des Eroberers von Asien eine halbe Welt unglücklich machte.

Doch wir fangen an zu merken, daß wir uns in Betrachtungen versteigen, die uns weit genug von unsrer Absicht entfernt haben, daß wir verlegen sind einen geschicktern Übergang zu finden, als den die Miscellanien-Schreiber zu machen pflegen, wenn sie nach einem halben dutzend Digressionen wieder dahin zurück wollen, woher sie gekommen sind.

Um also wieder zur Sache zu kommen, so werden wir bei der Erzählung unsers jungen Ritters einen Unterschied machen müssen zwischen demjenigen was ihm würklich begegnet war, und zwischen dem, was seine Einbildungs-Kraft hinzugetan hatte. Wir haben ihn, wie man sich noch erinnern wird, nach dem Abenteuer mit dem Papilion und dem Bildnis in einem Zustand verlassen, worin seine Phantasie auf einen außerordentlichen Grad erhöht war. Die Lebhaftigkeit der Bilder, die sich ihm darstellten, nahm mit der Nacht desto mehr zu, je weniger sie von äußern Empfindungen geschwächet wurde; es brauchte nur noch einen Grad, um sie selbst zu einer Art von Empfindungen zu machen. In einer solchen Disposition wurde er eine feurige Kugel gewahr, die in der Luft daher schwebte, und nach einer Weile nicht weit von ihm zersprang. Dieses nicht ungewöhnliche Meteor, welches ein Naturforscher[56] mit beobachtenden Augen angesehen hätte, vollendete die Bezauberung eines Don Sylvio. Er erinnerte sich, in seinen Märchen öfters solche flammende Kugeln gefunden zu haben, aus denen allemal eine Fee auf einem diamantnen Wagen, von sechs Schwanen oder vier und zwanzig Hammeln mit goldnem Vließ gezogen, hervor kam. Nach seiner Weise war also diese natürliche Erscheinung der Anfang einer übernatürlichen, und mehr brauchte es nicht, um die Phantasien, die schon geformt und zur Geburt zeitig in seinem Kopf lagen, in eine Reihe von vermeinten Empfindungen zu verwandeln, die von einem Traum nur darin unterschieden waren, daß er dabei wachte, und durch ihren Zusammenhang mit seinen vorhergehenden und nachfolgenden Ideen desto stärker betrogen wurde, sie für würklich zu halten.

Dieses ist wenigstens nach unserer Meinung die wahrscheinlichste Erklärung, die man von dergleichen Visionen geben kann; Allein wir sind weit entfernt sie jemanden aufdringen zu wollen. Don Sylvio war allein, da ihm die Fee Radiante erschienen sein soll, und man kann allen Zweiflern, Materialisten, Deisten und Pantheisten kühnlich Trotz bieten, jemals zu erweisen, daß die Fee Radiante, oder ihre Erscheinung etwas unmögliches sei. Wir können also unsre Erklärung für mehr nicht geben als für eine bloße Vermutung, und wenn die Liebhaber des Wunderbaren geneigter sein sollten, hierüber dem Don Sylvio selbst zu glauben, welcher unstreitig ein Augen-Zeuge und außer allem Verdacht eines vorsetzlichen Betrugs ist; so haben wir nicht das geringste dagegen einzuwenden.[57]

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Werke. Band 1, München 1964 ff., S. 54-58.
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