Siebentes Kapitel
Wie Euripides nach Abdera gekommen, nebst einigen Geheimnachrichten von dem Hofe zu Pella

[276] So möglich es an sich selbst war, daß sich Euripides zu Abdera befinden konnte, und eben so gut in dem Augenblick, wo der Nomophylax Gryllus auf ihn provocierte, als in jedem andern und so gewohnt man dergleichen unvermuteter Erscheinungen auf dem Theater ist: so begreifen wir doch wohl, daß es eine andre Bewandtnis hat, wenn sich eine solche Erscheinung im Parterre ereignet; und es ist solchenfalls der Majestät der Geschichte55 gemäß, den Leser zu verständigen, wie es damit zugegangen. Wir wollen alles, was wir davon wissen, getreulich berichten; und sollte dem scharfsinnigen Leser dem ungeachtet noch einiger Zweifel übrig bleiben: so müßte es nur die allgemeine Frage betreffen, die sich bei jeder Begebenheit unter und über dem Monde aufwerfen läßt: nämlich, warum z.E. just von einer Mücke, und just von dieser individuellen Mücke, just in dieser Secunde – dieser zehnten Minute – dieser sechsten Nachmittagsstunde, dieses 10 ten Augusts – dieses 1778 Jahres gemeiner Zeitrechnung, just diese nämliche Frau oder Fräulein von *** nicht ins Gesicht, nicht in den Nacken, Ellnbogen, Busen, nicht auf die Hand, noch in die Ferse, u.s.w. sondern gerade vier Daumen hoch über der linken Kniescheibe gestochen worden u.s.w. – und da bekennen wir ohne Scheu, daß wir auf dieses Warum nichts zu antworten wissen. Fragt die Götter –[276] könnten wir allenfalls mit einem großen Manne sagen; aber weil dieses offenbar eine – heroische Antwort wäre, so halten wirs für anständiger, die Sache lediglich auf sich beruhen zu lassen.


Also – was wir wissen. Der König Archelaus in Macedonien, ein großer Liebhaber der schönen Künste und der – schönen Geister (wie man damals gewisse verzärtelte Kinder der Natur nicht nannte, und wie man heutigs Tages einen Jeden nennt, von dem man nicht sagen kann, was er ist) – dieser König Archelaus war auf den Einfall gekommen, ein eignes Hofschauspiel zu halben; und vermöge einer Zusammenkettung von Umständen, Ursachen, Mitteln und Zwecken, woran niemanden mehr viel gelegen sein kann, hatte er den Euripides unter sehr vorteilhaften Bedingungen vermocht, mit einer Truppe ausgesuchter Schauspieler, Virtuosen, Baumeister, Maler und Machinisten, kurz mit allem, was zu einem vollständigen Theaterwesen gehört, nach Pella an sein Hoflager zu kommen, und die Direction über die neue Hofschaubühne zu übernehmen. Auf dieser Reise war itzt Euripides mit seiner ganzen Gesellschaft begriffen; und wiewohl der Weg über Abdera weder der einzige noch der kürzeste war, so hatte er ihn doch genommem, weil er Lust hatte, eine wegen des Witzes ihrer Einwohner so berühmte Republik mit eignen Augen zu sehen. Wie es aber gekommen, daß er an dem nämlichen Tage eingetroffen, da der Nomophylax seine Andromeda zum erstenmale gab; davon können wir, wie gesagt, keine Rechenschaft geben. Dergleichen Apropo's tragen sich häufiger zu als man denkt; und es ist wenigstens kein größeres Mirakel, als daß z.E. der junge Herr von ** eben im Begriff war, seine Beinkleider hinaufzuziehen, als unvermutet seine Nähterin ins Zimmer trat, die seidnen Strümpfe, die er ihr zu stoppen geschickt hatte, zu überbringen – welches, wie Sie wissen, die Veranlassung zu einer zufälligen Begebenheit war,[277] die in seiner hohen Familie wenigstens eben so große Bewegungen verursachte, als die unvorbereitete Erscheinung des Euripides in dem abderitischen Parterre. Wer sich über so was wundern kann, muß sich nicht viel auf die ΔΑΙΜΟΝΙΑ verstehen, wie eben dieser Euripides sagt.


Übrigens, wenn wir sagten, daß der König Archelaus ein großer Liebhaber der schönen Künste und schönen Geister gewesen sei, so muß das eben nicht so genau und im strengsten Sinn der Worte genommen werden; denn es ist eigentlich nur so eine Art zu reden, und dieser Herr war im Grunde nichts weniger als ein Liebhaber der schönen Künste und schönen Geister. Das Wahre davon war: daß besagter König Archelaus seit einiger Zeit öfters Langeweile hatte – weil ihn alle seine vormaligen Amüsemens, als da sind – F**, G**, H**, J**, K**, L**, M**, u.s.w. nicht länger amüsieren wollten. Überdem war er ein Herr von großer Ambition, der sich von seinem Oberkammerherrn hatte sagen lassen, daß es schlechterdings unter die Zuständigkeiten eines großen Fürsten gehöre, Künste und Wissenschaften in seinen Schutz zu nehmen. Denn, sagte der Oberkammerherr, Ew. Majestät werden bemerkt haben, daß man niemals eine Statue, oder ein Brustbild eines großen Herrn auf einer Medaille u.s.w. sieht, an dessen rechter Hand nicht eine Minerva stünde, neben einem Trophee von Panzern, Fahnen, Spießen und Morgensternen – zur Linken knien immer etliche geflügelte Jungen oder halbnackte Mädchen, mit Pinsel und Palet, Winkelmaß, Flöte, Leier und einer Rolle Papier in den Händen, die Künste vorstellend, die sich dem großen Herrn gleichsam zur Protection empfehlen; oben drüber aber schwebt eine Fama, mit der Trompete am Mund, anzudeuten, daß Könige und Fürsten sich durch den Schutz, den sie den Künsten angedeihen lassen, einen unsterblichen Ruhm erwerben u.s.w.

Der König Archelaus hatte also die Künste in seinen Schutz genommen; und dem zufolge wissen uns die Geschichtschreiber ein Langes und Breites davon zu erzählen, wie viel er gebaut habe, und wie viel er auf Malerei und Bildhauerei, auf schöne[278] Tapeten und andre schöne Meublen verwandt; und wie alles, bis auf die Commodidät, bei ihm habe hetrurisch sein müssen; und wie er berühmte Künstler, Virtuosen und schöne Geister an seinen Hof berufen habe, u.s.w. welches alles, sagen sie, er um so mehr tat, weil ihm daran gelegen war, das Andenken der Übeltaten auszulöschen, durch die er sich den Weg zum Throne, zu dem er nicht geboren war, gebahnt hatte – wie E.E. aus Ihrem Bayle mit mehrerm ersehen können.

Nach dieser kleinen Abschweifung kehren wir zu unserm attischen Dichter zurück, den wir unter einem schimmernden Zirkel von Abderiten und Abderitinnen vom ersten Range, unter einem grünen Pavillon im Garten des Archon Onolaus antreffen werden.

55

Ein Ausdruck, der vor kurzem von einem französischen Schriftsteller bei einer solchen Gelegenheit gebraucht worden ist, daß er nun für unwiederbringlich ruiniert angesehen werden kann, und allein noch in einem Possenspiel auszustehen ist.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Werke. Band 2, München 1964 ff., S. 276-279.
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