11.
An Demokles.

[89] So ist sie denn endlich geborsten, die Gewitterwolke, die wir schon so lange über unser ungewahrsames Vaterland herhangen sahen! Jetzt, lieber Demokles, darf ich dir doch wohl[89] bekennen, daß die Besorgniß, in eine von den Factionen, die einander dermalen in den Haaren liegen, wider Willen hineingezogen zu werden, ein Hauptgrund war, meine Reise nach Griechenland zu beschleunigen. Dächte mein Verwandter Ariston wie ich, oder hätten meine Vorstellungen Eingang bei ihm gefunden, so möchte sich unsre Regierung noch lange zwischen Oligarchie und Demokratie hin und her geschaukelt haben, ohne daß die öffentliche Ruhe viel dabei gelitten hätte. Aber seine hohe Meinung von sich selbst, die zehn Jahre die er älter ist als ich, das Unglück zu früh zum Besitz eines beinahe fürstlichen Vermögens gekommen zu seyn, und der Hof von Schmeichlern und Parasiten, wovon er überall umgeben ist, standen immer zwischen ihm und mir. Die Republik hat nun einmal den Grad der Verderbniß erreicht, der eine Veränderung ihrer Regierungsform unvermeidlich macht; unter den drei oder vier Nebenbuhlern, die sich um die schöne Basileia70 bewerben, muß sie (wie es scheint) am Ende doch Einem zu Theil werden; und da einer so viel Recht an sie hat als der andere, warum sollte der eitle und ehrsüchtige Ariston sie einem andern überlassen, ohne wenigstens zu versuchen, wie weit er es durch seine Gunst beim Volke, und durch seinen Anhang unter den jungen Leuten der Mittelklassen bringen könne? zumal, da der Umstand, daß seine Aeltermutter dem königlichen Geschlechte des Battus angehörte, ihm einen anscheinenden Vorzug vor den übrigen gibt, deren mehr oder weniger verdeckte Anschläge auf eben dasselbe Ziel gerichtet sind?

Daß dieß nicht meine Vorstellungsart sey, glaube ich[90] durch die That bewiesen zu haben. Aber wie ich sah, daß Ariston seine Partei genommen hatte, was blieb mir übrig, als mich so weit als möglich zu entfernen, wenn ich nicht in den Fall kommen wollte, mich öffentlich entweder für oder wider einen Mann zu erklären, der seit dem Tode seines Vaters als das Haupt unsrer Familie angesehen, und aus leicht begreiflichen Ursachen von allen übrigen Gliedern derselben theils geschont, theils offenbar begünstiget wird?

Aber auch ohne diesen besondern Bewegungsgrund würde ich sehr verlegen seyn, wenn ich eine von euern Factionen schlechterdings zur meinigen machen müßte. Seit Erlöschung des letzten männlichen Sprößlings der Battiaden, ging Cyrene (wie dir bekannt ist) in eine ziemlich anarchische Demokratie über, auf welche unser Volk, zur Ehre seines Menschenverstandes, gar bald freiwillig Verzicht that, um sich einer Art von Aristokratie zu unterwerfen, bei welcher es sich (wie es immer zu gehen pflegt) so lange wohl befand, als die Regenten redliche und verständige Männer waren, keinen andern Zweck als die allgemeine Wohlfahrt hatten, und Einsicht genug besaßen, sich in der Wahl der Mittel nicht zu vergreifen. Daß diese goldne Zeit nicht bis zur dritten Generation dauerte, versteht sich von selbst. Die Geschichte aller Oligarchien ist auch die unsrige, und es ist leicht vorauszusehen, daß wir in dem krampfhaften Zustande, worin sich unsre Republik dermalen befindet, noch von Glück zu sagen haben werden, wenn wir, ohne die fürchterlichen Folgen einer langwierigen Anarchie zu erfahren, recht bald, es sey nun durch Wiederherstellung der Demokratie, oder Einwilligung in die[91] Oberherrschaft eines Einzigen, wieder zur Ruhe kommen, bevor das mächtige Carthago unsern Händeln auf eine Art, die uns noch weniger behagen dürfte, ein Ende macht. Zwischen zweien Uebeln das kleinste zu wählen, ist oft eine schwere Aufgabe. Ich danke den Göttern, daß ich bei dieser Wahl keine entscheidende Stimme habe; müßte ich aber schlechterdings meine Meinung sagen, so würde ich rathen, das, was man sich am Ende doch gefallen lassen wird, weil man muß, lieber freiwillig und zu einer Zeit zu verfügen, da es noch in unsrer Gewalt ist, die Bedingungen selbst zu machen, unter welchen wir die Regierung mit dem wenigsten Nachtheil des Gemeinwesens in die Hände eines Einzigen legen könnten.

Meines Erachtens gibt es für einen kleinen oder mittelmäßigen Staat keine bessere Verfassung, als diejenige, welche Solon den Athenern gab, gewesen wäre, wenn ihm Pallas Athene den guten Gedanken eingeflüstert hätte, den Pisistratus von freien Stücken zur Uebernahme eines zehnjährigen Archontats zu berufen; allenfalls mit der Bedingung, ihm diese höchste Würde nach zehn Jahren, wenn das Volk mit seiner Regierung zufrieden wäre, auf seine ganze Lebenszeit zu verlängern. Die Athener sind nie glücklicher gewesen als unter der Regierung des Pisistratus und Hipparchus. Es fehlte ihr nichts als daß sie nicht verfassungsmäßig war. Wäre sie es gewesen, so würde der Tyrann71 Pisistratus ein Muster guter Fürsten heißen; so würde Athen wahrscheinlich der blühendste, mächtigste und dauerhafteste unter den Griechischen Staaten geworden seyn, und so viele tragische Glückswechsel und alles Unheil des siebenundzwanzigjährigen Verheerungskrieges,[92] der sich so übel für sie endigte, nicht erfahren haben. Möchten die Factionen welche unsre Republik zerreißen, und deren keine noch stark genug ist die Oberhand zu erhalten, sich auf diese Weise zu Rettung des Vaterlandes vereinigen! Auf allen Fall, und da mein besagter Rath alles ist, was ich für dasselbe thun kann, sey es dir frei gestellt, von diesem Briefe nach deinem Gutbefinden Gebrauch zu machen. Damit ich dir bei meinem Vorschlage nicht etwa einer eigennützigen Rücksicht verdächtig werde, erkläre ich unverhohlen, daß Ariston meine Stimme, wofern ich eine zu geben hätte, nie erhalten würde, so lange Cyrene noch mehr als Einen Mann aufweisen kann, dem ungleich größere Verdienste ein besseres Recht geben, der erste im Staate zu seyn. Lebe wohl, Demokles, und berichte mir mit der ersten Gelegenheit, was für eine Wendung diese Händel nehmen, deren Ausgang mir um so weniger gleichgültig seyn kann, da ich aller Wahrscheinlichkeit nach in jedem Falle mehr dabei zu verlieren als zu gewinnen haben werde.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 89-93.
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