16.
An Kleombrotus von Ambracien.

[142] Ich danke dir, Lieber, für die guten Nachrichten, die du mir von unsern Freunden gibst. Mir ist angenehm daß sie die Dauer der Poseidonien zu Aegina so genau ausrechnen; ich nehme es als ein Zeichen ihrer Zuneigung auf, daß sie mich so bald zurück verlangen, wiewohl mir leid wäre, wenn sie aus meinem langen Ausbleiben (wie sie es nennen) das Gegentheil von mir vermuthen wollten. Die Zeit ist vielleicht das zauberartigste Ding in der ganzen Natur, wenn man anders ein Ding nennen kann, was das, was es ist, bloß durch unsre Einbildung und unsern Maßstab wird. Eben dieselbe Zeit, sagt man, die dem Einen eine Stunde däucht, dünkt87 dem Andern ein Augenblick, dem Dritten ein Tag, dem Vierten ein Jahrhundert. Ich denke man könnte eben so gut sagen, sie ist es, für den nämlich, dem sie es däucht; denn daß sie einem andern mehr oder weniger ist als mir, gibt ihm kein Recht zu fordern, daß es mir auch so seyn soll. Ich bin nun bereits – laß sehen! – zwanzig ..... fünfundzwanzig ... achtundzwanzig ... wahrlich, beim großen Poseidon! einunddreißig Tage hier, und ich versichre dich, heute am Morgen des zweiunddreißigsten, ist mir ich hätte[142] die achtundzwanzig nur geträumt und sey erst vor drei Tagen in Aegina angekommen.

Was für ein Zauber kann das seyn, fragst du, der den kaltblütigen Aristipp zu einem solchen Schwärmer zu machen vermag? – Komm und siehe! – Du bist zu nahe bei mir, um zu erwarten, daß ich Stunden, die ich besser anwenden kann, Stunden die für mich nur Augenblicke und gleichwohl, dem Sonnenzeiger nach, volle Stunden von dreitausend und sechshundert Pulsschlägen sind, dazu verschwenden werde, dich mit schönen Beschreibungen, wie wohl mir's hier geht, zu unterhalten. Komm herüber, lieber Kleombrotus; was hast du in Athen zu versäumen? oder kannst du nicht, wenn du es recht anfängst, für das, was du versäumst, überall Ersatz finden? Was wir in unserm Cirkel zu Athen philosophiren nennen, ist eine sehr gute Sache; nur zu viel ist nicht gut. Auch Aegina wird von den Musen besucht; du wirst sie mitten unter uns, oder uns mitten unter ihnen finden; und (was bei euch nicht immer der Fall ist) Arm in Arm mit den Grazien, und von Amorn mit Blumenketten gebunden. Du bedarfst einer kleinen Unterbrechung deiner gewöhnlichen Studien, die du mit einem so enthusiastischen Eifer betreibst, daß dein Magen und Unterleib, und (unter uns gesagt) dein Kopf selbst in Gefahr dabei gerathen. Auch darf ich dir nicht verhalten, daß mir vor dem feinen Netz ein wenig bange ist, womit die weise Aspasia dich zu umspinnen sucht. Fahre nicht auf, Lieber, und mache kein solches Gesicht an mich, als ob ich den Tempel zu Delphi beraubt, oder die Geheimnisse der Eleusinischen Göttinnen[143] verrathen hätte! Aspasia ist unläugbar eine Frau von vieler und langer Erfahrung; von hohem Geist, großer Menschenkenntniß und feiner Lebensart, eine Meisterin in der Kunst zu reden und zu überreden; wahrlich, der klügste unter den dermaligen Demagogen zu Athen müßte noch lange bei ihr in die Schule gehen, bis er ihr alle die feinen Kunstgriffe abgelernt hätte, womit sie vor dreißig Jahren den Mann, der Griechenland regierte, zu regieren wußte. Kurz, ich weiß alles, was du mir zur Rechtfertigung der hohen Meinung, die du von ihr gefaßt hast, sagen kannst. Aber was du nicht weißt, nicht siehst, nicht eher bis es zu spät ist sehen wirst, ist, daß die Freundschaft, die sie dir zeigt, nicht ganz so uneigennützig ist, als du dir einbildest. Denke nicht, sie habe immer so exemplarisch gelebt, wie sie jetzt zu leben scheint, da sie als Wittwe von zwei Athenischen Demagogen ihren sechzigsten Sommer herannahen sieht. – »Ihren sechzigsten Sommer? rufst du aus; das ist unmöglich, wenn sie nicht von Heben oder Auroren das Geheimniß, niemals alt zu werden, zum Geschenk erhalten hat.« – Das Geheimniß liegt in einem halben Duzend Alabasterbüchschen auf ihrem Putztische, mein Freund. Glaube mir, ich kenne diesen Schlag von Weibern, und die Art, wie sie sich für die Mühe, ihre jungen Freunde zu bilden und in die Welt einzuführen, bezahlt zu machen pflegen, und ich könnte dir ein Lied davon singen, wiewohl mich keine von ihnen je gefangen hat. Mit dir ist's ein anderes, mein lieber Enthusiast. Du bist (mit Erlaubniß zu sagen) eine unschuldige schwärmerische Motte, die dem Lichte zufliegt, weil sie von seinem Schein entzückt[144] ist, und nicht eher erfährt daß es auch brennt, bis sie mit versengten Flügeln am Boden zappelt. Lass' dich warnen, Freund Kleombrotus; und wenn du jetzt, wie ich nicht zweifeln will, mit gewarnten Augen Entdeckungen machst, die dir meine Meinung von den Absichten der weisen Dame bestätigen, so eile dich von ihr loszuwinden, und komm' zu mir herüber. Solltest du einen Vorwand dazu nöthig zu haben glauben, so brauchst du ja nur ein Geschäft auf einer der Aegeischen Inseln vorzuschützen, und du begleitest mich dann auf der Reise, die ich in kurzem antreten werde, um die beträchtlichsten und berühmtesten derselben, Delos, Naxos, Samos, Chios und Lesbos zu besuchen. Fremde, wie wir, haben ohnehin den Cekropiden keine Rechenschaft zu geben, wenn wir ihr schönes, öltriefendes, veilchenbekränztes Athen wieder zu verlassen für gut finden; wiewohl sie keinen Begriff davon zu haben scheinen, wie man auch anderswo, wo man nicht um zwei oder drei Obolen von Sardellen, Gerstenbrot und Knoblauch lebt, ein menschliches Leben führen könne.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 142-145.
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