25.
Lais an Aristipp.

[179] Aber wer sagt dir denn, wunderlicher Mensch, daß ich mir nur im Traum einfallen lasse, den einzigen gesunden Kopf in ganz Griechenland verrücken zu wollen? – Und wenn ich es könnte, würdet ihr andern desto weiser seyn? Daß ihr doch alle, ohne Ausnahme, wie es scheint, gar viel dabei zu gewinnen glaubt, wenn ihr einen großen Menschen ein paar Stufen zu euch herunterziehen könntet; als ob er nicht immer um eben so viel größer bliebe als ihr, wenn er auch auf derselben[179] Fläche mit euch steht. Wie konntest du dir einbilden, ich werde nicht merken, warum du so ängstlich für den Ruhm meiner Reizungen bekümmert bist? Aber sey ohne Sorgen, mein Freund! Ich mache keinen Anspruch von einem Manne wie Sokrates anders als nach seiner eigenen Weise geliebt zu werden, und es würde mir unendlichemal weniger schmeicheln, wenn ich, um sein Herz zu gewinnen, ihm vorher den Kopf verrücken müßte. Glücklicher Weise ist die Sache bereits entschieden; mein Spiel ist gewonnen, und ich bin desto besser mit mir selbst zufrieden, weil ich es ohne hetärische Winkelzüge aufrichtig und redlich gewonnen habe. Doch alles an seinem Ort und zu seiner Zeit!

Es gefällt mir hier so wohl, daß ich gute Lust habe, ein Tagebuch über meinen hiesigen Aufenthalt zu schreiben, und du sollst sehen, daß der weiseste aller Menschen keine schlechte Rolle darin spielt.


Ich lebe nun vierzehn volle Tage hier, und von diesen ist kein einziger vorbeigegangen, ohne daß ich deinen Sokrates gesehen und gesprochen hätte. Allenthalben, wo ich zu sehen bin, ist er auch; in der großen Halle, in der Akademie, im Odeon, auf dem Ziegelplatz, im Piräos, unter den Propyläen, überall wo ich hingehe, find' ich ihn immer schon da, oder bin doch gewiß, daß er wie gerufen kommen wird. Du lachst, Aristipp, daß ich so einfältig bin, etwas auf meine Rechnung zu setzen, was Sokrates schon seit vierzig Jahren alle Tage zu thun[180] pflegt. – »Man ist es, sagst du, zu Athen gewohnt, ihn aller Orten zu sehen, wo viele Menschen zusammenkommen; und er würde gar nicht mehr bemerkt werden, wenn er nicht so viel und so laut spräche, daß man ihn wohl hören muß, man wolle oder nicht.« – Aber, mein schöner Herr, daß er mich in acht ganzen Tagen auch nicht ein einzigesmal verfehlt haben sollte, wenn unser Zusammentreffen bloßer Zufall wäre, das sollst du mich nicht bereden! Und daß er immer nur mit mir spricht, kommt wohl auch daher, weil sonst niemand mit ihm reden mag? Und daß er, seit ich zu Athen bin, täglich ins Bad geht, und Sohlen unter die Füße bindet, und immer in seinem besten neugewalkten Mantel prangt, hat er wohl auch seit vierzig Jahren immer so gemacht? – Höre, Aristipp! ich sage dir, verkümmere mir meine Freude nicht, oder wir bleiben nicht lange gute Freunde!


Das muß ich den Athenern nachrühmen, sie betragen sich, auch seitdem der erste Taumel vorüber ist, mit vieler Urbanität und Artigkeit gegen mich und meine Grazien. Aber freilich, immer in Ungewißheit zu schweben wie ich heiße? Wer ich bin? Wo ich herkomme? Was ich zu Athen zu suchen habe? Wie lange ich bleiben werde? Wie es mir da gefällt? – und einander über alle diese Fragen keine Antwort geben zu können, ist mehr als man einem so lebhaften und wißbegierigen Volke zumuthen kann. Ueber den letzten Punkt erhalten sie zwar bei jeder Gelegenheit die verbindlichsten[181] Erklärungen; aber über alles Uebrige mußten sie sich einige Tage mit der allgemeinen Nachricht, die sie von meinen Leuten in größtem Vertrauen erhielten, behelfen: daß wir sehr weit herkämen, daß ich mich eines Gelübdes gegen die große Göttermutter von Berecynth99 zu entledigen hätte, und daß ich nach Athen gekommen sey, weil ja niemand sagen könnte, er habe etwas Sehenswürdiges in seinem Leben gesehen, wenn er Athen nicht gesehen hätte. Damit kamen wir nun etliche Tage so ziemlich aus: aber wie das Aufsehen, das ich gegen meine Absicht erregte, immer auffallender wurde; wie man überall von nichts als der schönen Unbekannten sprach, und tausenderlei lächerliche Sagen, Vermuthungen und Hypothesen über sie herumliefen, fanden endlich die Gynäkonomen100 für nöthig, ihr Amt zu verrichten, und sich etwas näher, wiewohl sehr manierlich, nach meinem Namen und Stande zu erkundigen. Um ihrer recht bald und mit eben so guter Manier los zu werden, fiel mir in der Eile nichts Besser's ein, als mich (mit deiner vorausgesetzten Erlaubniß) für eine Cyrenerin, Namens Anaximandra, eine Verwandte von Aristipp, Aritadessohn, auszugeben, die, wegen der neulich zu Cyrene ausgebrochnen Unruhen, für gut gefunden hätte, auszuwandern, und sich bis zur Wiederherstellung der Ordnung in ihrer Vaterstadt in Griechenland aufzuhalten. Die Herren zogen sich nach Empfang dieser Auskunft mit allem möglichen Atticism wieder zurück, und seitdem begegnet mir, wie mich dünkt, jedermann mit verdoppelter Aufmerksamkeit und Achtung; so groß ist der Credit, in welchen mein neuer Vetter die Stadt Cyrene bei den guten Kechenäern gesetzt hat. Du[182] kannst dir leicht vorstellen, daß ich mich, um meinen neuen Namen und Stand gehörig zu behaupten, bei meinem Verehrer Sokrates nach dir erkundigen mußte. Um dich weder zu stolz noch zu demüthig zu machen, will ich dir nicht wieder sagen, was er von dir urtheilt. Genug, ich sagte ihm: da du, bei vielen Fähigkeiten und guten Eigenschaften, von etwas leichtem Sinne wärest, und das Vergnügen vielleicht etwas mehr liebtest, als einem edeln emporstrebenden Jünglinge zuträglich sey, so hätte die Familie geglaubt nicht besser thun zu können, als wenn sie dir auf einige Zeit das Glück um Sokrates zu seyn verschaffte; – und er versicherte mich dagegen, die Schuld werde nicht an ihm liegen, wenn die gute Absicht deiner edeln Familie verfehlt werden sollte. Das lass' dir gesagt seyn, Vetter Aristipp!


Wenn ich Lust hätte, dem guten Willen der Attischen Jugend von der ersten Classe, und den übel verhehlten kleinen Entwürfen ihrer Väter, einige Aufmunterung zu geben, so würde mein Aufenthalt zu Athen eine Kette von Lustpartien, Gastmählern und Vergnügungen aller Gattung seyn. Die allgemeine Schwärmerei, die meine Erscheinung erregte, ging anfangs so weit, daß ich sogar einem Freunde nicht ohne Unbescheidenheit davon sprechen kann. Ich glaube, wenn ich mit meinen drei Grazien gerades Weges vom Tempel der Aphrodite Besitz genommen hätte, niemand würde mir das Recht dazu streitig gemacht haben. Dieser Grad von Berauschung[183] konnte natürlicher Weise von keiner langen Dauer seyn: dagegen hat der Wetteifer sich um mich verdient zu machen, bei allen, die sich durch persönliche oder angeerbte Vorzüge dazu berechtigt halten, eher zu als abgenommen. Aber ich entziehe mich den Wirkungen desselben so viel möglich, und bleibe meinem Plan getreu. Des Sokrates wegen bin ich nach Athen gekommen, und ihm vorzüglich soll die Zeit meines Hierbleibens gewidmet seyn. Ich habe mir alle Einladungen in die Häuser meiner Verehrer verbeten, und sehe, außer an öffentlichen Orten, keine Gesellschaft als in meiner eigenen Wohnung. Denn ich habe durch Vermittlung deines Freundes Eurybates (der mir die strengste Verschwiegenheit versprochen hat) ein ganz artiges kleines Haus mit einem geräumigen Saale gemiethet, wo sich alle Abende eine auserlesene Gesellschaft von ältern Freunden des Sokrates einfindet, unter welchen er selbst nur selten fehlt. Die jüngern sind (zu großer Unlust des schönen Phädrus, meines erklärten Anbeters) ohne Barmherzigkeit ausgeschlossen. Ich wollte, du könntest sehen, wie hübsch ich mich als Wirthin mitten unter einer Gesellschaft von sechs oder acht weisen Männern ausnehme, von denen der jüngste seine funfzig Jahre auf dem Rücken hat; und wie stolz würdest du erst auf deine neue Base seyn, wenn du sie mit solchen Antagonisten über das selbstständige Schöne und Gute, über den Grund des Rechten, über das höchste Gut und über die vollkommenste Republik ganze Abende lang disputiren hörtest, und bemerktest, mit welcher Natur oder Kunst (wie du willst) sie diesen spröden Materien ihre Trockenheit zu benehmen, und die graubärtigen Streithähne[184] selbst in gebührender Zucht und Ordnung zu erhalten weiß. Aber freilich darf uns dann die Hauptperson nicht fehlen; er, dessen scharfer Blick, treffender Witz und muntre Laune ihn zur Seele unsrer Gesellschaft macht. Der undankbarste Stoff wird unter seinen Händen reichhaltig, und die scherzhafte sympotische Manier101, womit er die subtilsten Probleme der Moral und Menschenkunde zu unterhaltenden Tischgesprächen zuzurichten weiß, scheint die verwickeltsten Knoten oft feiner, wenigstens immer zu größerm Vergnügen der Zuhörer, zu lösen, als durch eine ernsthaftere und schulgerechtere Analyse geschehen würde. Aber Ehre dem Ehre gebührt! Die schöne Anaximandra thut natürlicherweise ihre Wirkung, und seine ältesten Freunde versichern mich, daß sie ihn in seinem ganzen Leben nie so aufgeräumt und jovialisch gesehen haben, als – seit dem Tage meiner Ankunft in Athen. Nenn' es nun und erkläre dir's wie du willst; ich streite nie um Worte, aber du wirst mir erlauben, daß ich mich an die Erklärung halte, die für meine Eigenliebe die schmeichelhafteste ist.


Ich gefalle mir so wohl zu Athen, daß ich, wenn mir Eurybates reinen Mund hält, und nicht etwa ein neidischer Dämon mir jemand, der mich zu Korinth gekannt hat, in den Weg wirft, große Lust habe, meinen Aufenthalt noch um mehrere Tage zu verlängern.

Mein geheimes Liebesverständniß mit dem alten Spötter (denn bis zu Erklärungen über einen so zarten und unaussprechlichen[185] Gegenstand ist es zwischen uns noch nicht gekommen) geht noch immer seinen Gang, und ich schließe aus dem Vergnügen, das ich an seinem Umgang finde, daß ihm der meinige wenigstens eben so angenehm seyn müsse. Wiewohl er eine Aspasia gekannt hat, glaube ich doch etwas Neues für ihn zu seyn; und bei aller seiner anscheinenden Beschränktheit, hat vielleicht kein Sterblicher jemals eine allgemeinere Empfänglichkeit und einen reinern Sinn für alles Menschliche gehabt als er.


Wünsche mir Glück, Aristipp! heute hab' ich einen ganzen Morgen mit meinem Liebhaber Sokrates auf der Burg von Athen unter vier Augen zugebracht; denn die ehrliche Haut Simmias von Theben und den feinen wohlerzogenen Kritobul, die ihn begleiteten, rechne ich für nichts, weil sie so bescheiden waren uns fast immer allein zu lassen. Wir besahen alle Merkwürdigkeiten des Orts, der das Sublimste und Schönste, was Baukunst und Bildnerei in der Welt hervorgebracht haben, in keinem größern Raume vereiniget, als gerade nöthig war, um dem Auge alles unter einem einzigen Gesichtspunkte als das erhabenste Ganze darzustellen. Mir war als ob ich diese Wunder der Kunst zum erstenmal sähe, da ich sie mit Sokrates sah, wiewohl ich schon zuvor in Gesellschaft des Eurybates hier gewesen war. Am längsten verweilten wir, wie billig, unter den Propyläen, wo die schönsten Bildsäulen von Phidias, Alkamenes, Myron[186] und Menon uns ein paar Stunden unterhielten. Sokrates, wiewohl in seiner Jugend selbst ein Bildhauer, sprach von diesen Werken mit der verständigen Bescheidenheit eines Mannes der den Meißel seit vierzig Jahren nicht geführt hatte und, seinem eigenen Urtheil nach, nie weiter als in den Vorhof der Kunst gekommen war. Indessen schien er mir Bemerkungen zu machen, wovon auch ein Meister hätte Vortheil ziehen können. Ich fragte ihn, in welche Rangordnung er die genannten Künstler stelle. Frage lieber dein eigen Gefühl, war seine Antwort. – So ist Phidias der erste. – Unstreitig, erwiederte er. In Phidias findet sich alles, was den großen Künstler macht, beisammen; er ist, so zu sagen, ein Homer, der statt in Versen, in Marmor und Elfenbein dichtet. Ihm allein scheinen die Götter, die er bildete, wirklich erschienen zu seyn: Alkamenes bestrebte sich menschliche Gestalten zu göttlichen zu veredeln. Beide haben dem Myron nichts als den Vorzug der Grazie übrig gelassen. Menon, vielleicht der beste unter den Lehrlingen des Phidias, ist gegen diese drei – nichts als ein Lehrling. Eine Diane von Myron veranlaßte mich, den Wunsch hören zu lassen, daß ich die Grazien sehen möchte, welche Sokrates selbst in seiner Jugend gearbeitet hatte. Sie sind nicht werth von dir gesehen zu werden, versetzte er; ich bin nie mit ihnen zufrieden gewesen; aber seitdem ich deine Grazien kenne, würde ich die meinigen noch zehnmal steifer und steinerner finden als sonst. – Meine Grazien? sagte ich verwundert: es sind allerdings drei liebliche Mädchen; aber doch – »Ich rede nicht von deinen Aufwärterinnen,[187] schöne Anaximandra: ich meine deine eigenen Grazien« – Mache mich nicht stolz, Sokrates; ich dachte nicht daß du auch schmeicheln könntest. – »Zum Beweise daß ich weder schmeichle noch scherze, will ich mich näher erklären. Ich habe seitdem ich dich kenne drei Dinge an dir bemerkt, die dich aus allen Schönen, die mir jemals vorgekommen sind, auszeichnen, und dir gerade das sind, was der Liebesgöttin die Grazien. Das erste ist ein dir eignes, kaum sichtbares, deinen Mund, deine Augen, dein ganzes Gesicht sanft umfließendes Lächeln, das nie verschwindet, es sey daß du sprichst oder einem andern zuhörst, auch sogar dann nicht, wenn du etwas Mißfälliges siehest oder hörest, zu trauern oder zu zürnen scheinst; das zweite, eine unnachahmlich zierliche Leichtigkeit im Gang und in allen Bewegungen und Stellungen des Körpers, die dir, wenn du gehest, etwas Schwebendes, und wenn du in Ruhe bist, das Ansehen gibt, als ob du, ehe man sich's versehe, davon fliegen werdest; eine Leichtigkeit, die niemals weder an sich selbst vergessende Lässigkeit noch an Leichtfertigkeit streift, und immer mit dem edelsten Anstand und mit anspruchsloser angebornen Würde verbunden ist.« – Eine plötzliche Schamröthe ergoß sich, wie er dieß mit so viel anscheinender Treuherzigkeit sagte, über mein ganzes Gesicht, bei dem Gedanken, daß ich mit einem so guten und ehrwürdigen Manne am Ende doch nur Komödie spiele. – Gut; rief er, da haben wir deine dritte Grazie! diese holde Schamröthe, die Tochter des zartesten Gefühls, die dem Adel deiner Gesichtsbildung und dem Ausdruck des Selbstbewußtseyns nichts benimmt,[188] und sich dadurch so wesentlich vom Erröthen der kindischen oder bäurischen Verlegenheit unterscheidet. Ein Bildhauer, der Genie und Kunst genug besäße, dieses Lächeln, diese Leichtigkeit und dieses Erröthen zu verkörpern und in Gestalt dreier lieblicher Nymphen darzustellen, hätte uns die Grazien dargestellt.

Gestehe, Aristipp, daß es keine sehr leichte Sache war, in diesem Augenblicke nicht ein wenig aus mei ner Rolle zu kommen. Aber Sokrates selbst half mir ohne sein Wissen wieder hinein. Ich sage dir dieß, fuhr er fort, weder um deine Eigenliebe zu kitzeln, noch weil es mir im geringsten schwer gewesen wäre, meine Bemerkungen für mich zu behalten; sondern, weil ich diese Gelegenheit nicht entschlüpfen lassen möchte, ohne dir die hohe Bestimmung zu Gemüthe zu führen, um derentwillen die Götter so viel Schönheit und Würde mit so viel Reiz und Anmuth in dir vereiniget haben.

Und nun, Freund Aristipp, setzte er sich mit mir unter den großen Oelbaum vor dem Tempel der Athene Polias102, und begann, mit einer ihm nicht gewöhnlichen Begeisterung, eine lange Rede über – Schönheit und Liebe. Er setzte als etwas, woran ich nicht zweifeln könne, voraus, daß beide ohne Tugend weder zu ihrer Vollkommenheit gelangen, noch von Dauer seyn könnten. Er bewies, indem er die Begriffe in seiner etwas spitzfindigen Manier sonderte und entwickelte, daß das Schöne und Gute im Grund eben dasselbe, und Tugend nichts anders als reine Liebe zu allem Schönen und Guten sey; eine Liebe, die vermöge ihrer Natur, gleich der[189] Flamme, immer emporstrebe, durch nichts Unvollkommnes befriediget werde, und nur im Genuß des höchsten Schönen, zu welchem sie stufenweis emporsteige, Ruhe finde. – Und was meinst du, daß er mit dem allen wollte? Nichts geringeres als mich überzeugen, »daß die Natur mich ganz eigentlich zu einer Lehrerin und Priesterin, ja noch mehr, zu einer unmittelbaren Darstellerin des Ideals der Tugend, mit Einem Wort, zur personificirten Tugend selbst bestimmt und ausgerüstet habe; und daß es also die erste meiner Pflichten sey, die Erreichung dieses hohen Ziels zum großen Geschäfte meines Lebens zu machen.«

Es würde mir kaum möglich seyn, nur den zehnten Theil der erhabenen Dinge, die er mir sagte, wieder zusammen zu bringen; aber des Schlusses seiner Rede erinnere ich mich noch von Wort zu Wort. »Wenn, sagte er, die Tugend sich sichtbar machen könnte, was für eine andere Gestalt als die deinige könnte sie annehmen wollen, um alle Herzen an sich zu ziehen und fest zu halten? Es hängt bloß von deinem Wollen ab, der Welt zu zeigen daß sie sichtbar werden könne: und wenn Tyche103 dich zur Königin des ganzen Erdkreises erhübe, wie wenig wäre das gegen die Höhe, zu welcher du dich aus eigener Macht, ohne etwas anders als dich selbst vorzustellen, erheben kannst, bloß indem du die Pflicht, die dir deine Schönheit auferlegt, in ihrem Umfang erfüllst.«

Du wirst mir gern glauben, Aristipp, daß es mich einige Mühe kostete, die Bewegung zu verbergen, in welche mich diese sonderbare Anrede setzte. Was in seiner Moral überspannt[190] war, that doch die komische Wirkung nicht, die es vielleicht in dem Munde eines andern gethan hätte. Ich fühlte es sehr wohl, aber ich hätte um alles in der Welt nicht darüber scherzen können; denn ich fühlte zugleich daß etwas Wahres daran war, das sich nicht wegscherzen lassen würde. In diesem Augenblick, glaube ich, eilten mir die Grazien, die er selbst mir zugegeben hatte, alle drei zu Hülfe. Ich legte meine Hand mit einem kaum merklichen Druck auf die seinige, und sagte, indem ich ihm mit ernstem Lächeln erröthend in die Augen sah: der Ort, wo wir sind, und die sichtbare Gegenwart so vieler Götter und Heroen, die uns umgeben, hat dich mächtig ergriffen, ehrwürdiger Sokrates; du sprichst wie ein Begeisterter und beinahe wie ein Gott. Ich bin nur eine schwache Sterbliche: und doch schwebt auch mir ein hohes Ideal vor, das ich vielleicht nie erreichen werde. Ich hoffe dieses Morgens und aller andern Stunden, die ich in deiner Gesellschaft lebte, nie zu vergessen; und wenn ich –

Zu gutem Glücke zog mich Aristophanes, der auf einmal hinter den Säulen hervorrauschend auf uns zugelaufen kam, aus der Verlegenheit, meine Periode auszuründen. Da wir uns schon öfters gesehen hatten, hielt er sich berechtigt, mich im Ton einer alten Bekanntschaft anzureden, und darüber zu scherzen, daß er mich mit dem weisen Sokrates so allein überrascht hätte. Dieser antwortete ihm mit der gewandtesten Leichtigkeit in eben demselben Ton, und beide bewiesen mir (da ich ihr wahres Verhältniß kannte) durch ihr Benehmen gegen einander, daß die Attische Urbanität eine sehr[191] preisliche Bürgertugend ist. Bald darauf gesellten sich noch mehrere Bekannte zu uns, und als sich der Komiker wieder entfernt hatte, sagte Sokrates lächelnd zu mir: an diesem Menschen könntest du gleich dein erstes Meisterstück machen, Anaximandra. – Ich würde schwerlich viel Ehre davon haben, versetzte ich, wenn Sokrates selbst in zwanzig Jahren nichts über ihn vermochte. – Keineswegs, erwiederte er, da du alles hast was mir fehlt. Schönheit, Anmuth und Jugend sind gar mächtige Anlockungen. – Aber ein so schlauer Vogel wie dieser, sagte ich, würde sich die Lockspeise belieben lassen und der Schlinge doch zu entgehen wissen.

Wir stiegen nun durch die Propyläen wieder in die Stadt herab, und ich konnte dem Einfall nicht widerstehen, meinen Blumenkranz abzunehmen, und die Bildsäule des großen Mannes damit zu krönen, dessen königlichem Geist Athen ihren hohen Glanz über alle andern Städte in der Welt zu danken hat.


So eben erhalte ich von Korinth Nachricht, daß der beschwerlichste meiner Nachsteller den Weg, den ich genommen, entdeckt habe, und morgen in Athen eintreffen werde. Er soll das Nest leer finden. Morgen mit dem frühesten fliege ich nach Korinth zurück. Aber damit sich doch die Athener eine Zeit lang meiner erinnern, muß ich noch etwas thun, das in ihrer Stadt vermuthlich noch nie gesehen worden ist. Ich habe alle Bekannten, die ich hier gemacht, junge und alte,[192] zwanzig bis dreißig an der Zahl, zu einem kleinen Abschiedsfest einladen lassen. Ein halb Duzend Köche sind bereits in voller Arbeit; denn ich werde meine Gäste mit einem Symposion in Korinthischer und Cyrenischer Manier bewirthen. Alle Götter der Freude sollen von der Partie seyn; ich lasse die berühmtesten Citherspielerinnen und Auletriden104 dazu bestellen, und deine Grazien sollen alle ihre Talente in Gesang, Tanz und Mimik den Augen und Ohren der entzückten Cekropier Preis geben. Du siehst es will sich nicht anders schicken, als daß die edle Anaximandra von Cyrene, die mit dem Pracht und Vergnügen liebenden Aristipp verwandt zu seyn die Ehre hat, den Athenern ihre Dankbarkeit für die gute Aufnahme, die sie bei ihnen fand, auf eine seiner würdige Art beweise; und muß ich nicht meinem erhabnen Liebhaber zeigen, daß seine Lehren und Ermahnungen auf keinen unfruchtbaren Boden gefallen sind? Denke ja nicht, daß ich seiner dadurch spotten wolle. Die Grazien haben auch ihre Philosophie, und er soll sehen, daß sie sich mit der seinigen, wenn sie anders nicht gar zu störrisch ist, ganz gut verträgt. Ob ich auch deinen sauertöpfischen Antisthenes zu der freundlichen Tugend bekehren werde, die, um die Herzen zu gewinnen, die Gestalt der Freude annimmt? Wir wollen sehen.


Ich melde dir von Eleusis aus, daß alles recht gut abgelaufen ist. Meine Gäste schienen von mir und meinem Gastmahl und den Talenten meiner Grazien bezaubert. Sogar die[193] finstere Stirne des strengen Antisthenes entrunzelte sich. Den Sokrates allein glaubte ich bald ernsthafter bald ironischer zu sehen als gewöhnlich, und man hätte zuweilen denken sollen, er sey von der Polizei bestellt mich zu beobachten, so scharfe Seitenblicke heftete er von Zeit zu Zeit auf mich. Aber Anaximandra machte es wie Hippokleides105 und ließ sich's nicht kümmern; oder vielmehr, sie begegnete ihm mit der zärtlichen Aufmerksamkeit einer guten Tochter, und schien nichts an ihm zu sehen, was ihre fröhliche Stimmung hätte unterbrechen können. Das Fest dauerte ziemlich weit in die Nacht, und Sokrates war einer der letzten, die sich zurückzogen. Nachdem die Gesellschaft sich in einzelne Gruppen getheilt hatte, und während die meisten den Spielen und Tänzen zusahen, fanden wir uns wie durch Zufall in einer Ecke des Saals allein. Ich lenkte das Gespräch mit guter Art auf dich, und bat ihn, mir ganz offenherzig zu sagen was er von dir denke. Aristipp, antwortete er, ist ein junger Mann von vorzüglichen Anlagen; als ein Liebhaber des Schönen möchte er auch wohl die Tugend lieben, wenn sie nur keine Opfer forderte. Seine Sinnesart ist edel; aber was ihm immer gefährlich seyn wird, ist sein Hang zu einem freien Leben und zur Sinnenlust.

Ich. Wir haben ihn nie ausschweifend gekannt. Sollte er die Gelegenheit, weiser bei dir zu werden, so wenig benutzt haben, daß er sich erst zu Athen verschlimmert hätte?

Sokrates. Auch ich habe ihn nie über die Gränzlinien des Wohlanständigen hinausschweifen sehen, und über einen gewissen Punkt beschämt seine Unsträflichkeit unsre meisten[194] Jünglinge. Aber sein letzter Aufenthalt zu Aegina machte mich vielleicht seinetwegen besorgter als nöthig war.

Ich. Wie so? Hat man dir vielleicht von seiner Anhänglichkeit an eine gewisse Lais von Korinth gesprochen?

Sokrates. Ich höre wenig auf Gerüchte. Sie soll außerordentlich schön, geistvoll und liebenswürdig seyn; und eben darum halte ich sie bei der freien Denkart, wovon sie Profession macht, für eine sehr gefährliche Zaubrerin.

Ich. Sokrates, du siehst Anaximandren jetzt zum letztenmal, und sie könnte sich nicht verzeihen dich länger zu täuschen. Ich selbst bin diese Lais, die du unter einem andern Namen liebenswürdig gefunden hast, und die dir in diesem Augenblick des Scheidens gesteht, daß sie dich allen Männern vorzieht, die sie jemals gesehen hat.

Sokrates. Deine Aufrichtigkeit, schöne Lais, ist der Erwiederung werth: du sagst mir nichts Neues; schon diesen Morgen wußte ich wer du warst. Du glaubtest ich schwärme; jetzt begreifst du, daß ich bei ruhigem Muthe war. Lebe wohl, und erinnere dich zuweilen an den Oelbaum der Polias! – Ich konnte mich nicht erwehren meinen Mund auf seine Hand zu bücken, und so wahr mir Urania gnädig sey, eine Thräne, glaube ich, fiel auf sie herab. Er drückte die meinige und entfernte sich.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 179-195.
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