30.
Aristipp an Lais.

[204] Nach einer Wanderung von mehr als fünf Monaten bin ich wieder wohlbehalten auf dem »öltriefenden Boden angelangt, den Pallas Athene beschützt;« in dieser Stadt von welcher der Dichter Lysippus107 sagt:


Hast du Athenä nicht gesehn, bist du ein Klotz,

Sahst du sie und sie fing dich nicht, ein Stockfisch;

Trennst du dich wohlgemuth von ihr, ein Müllerthier.


Ich hoffe dieß letztere werde nicht im strengsten Sinn der Worte zu nehmen seyn; denn ich sehe wohl, daß ich Athen noch mehr als einmal wohlgemuth verlassen werde; aber dafür bin ich auch gewiß, ich werde eben so oft wieder zurückkommen; und ich müßte mich sehr irren, oder dieses wechselnde Kommen und Gehen ist das wahre Mittel, wie man der Vortheile und Annehmlichkeiten des Aufenthalts in dieser Hauptstadt der gesitteten Welt genießen kann ohne ihrer überdrüssig zu werden, oder sie von den übermüthigen, naseweisen und wetterlaunischen Einwohnern gar zu theuer zu erkaufen. Nimm es nicht übel, Laiska, daß ich von den edeln Theseiden, deinen erklärten Liebhabern, mit so wenig Ehrerbietung rede. Ich läugne es nicht, ein Fremder, der sich[204] eine Zeit lang unter ihnen aufhält, und, es sey nun durch persönliche Eigenschaften oder durch Geburt, Stand und glänzenden Aufzug, ihre Aufmerksamkeit erregt, muß von ihrer Liebenswürdigkeit bezaubert werden; aber lass' ihn nur so lange bleiben, bis sie es nicht mehr der Mühe werth halten Umstände mit ihm zu machen: ich wette, er wird den Unterschied zwischen dem Athener im Feierkleide und dem Athener im Caputrocke sehr auffallend finden. Das ist allenthalben so, wirst du sagen. Ich gesteh' es; aber doch zweifle ich sehr, ob irgend ein anderes Volk dich die zuvorkommende Artigkeit und Gefälligkeit, womit es dich Anfangs überhäuft, so theuer bezahlen läßt, als der Athener, von dessen Charakter einer der wesentlichsten Züge ist, daß er Andere gerade so viel unter ihrem wahren Werth schätzt, als er sich selbst über den seinigen würdigt.

Ich weiß nicht, ob du von einem Gemälde des berühmten Parrhasius gehört hast, worin er den schon vom Aristophanes so treffend personificirten Athenischen Demos108 in einer Art von allegorisch historischer Composition zu schildern unternahm. Seine Absicht, sagt man, war, die Athener von der schönen und häßlichen Seite, mit allen ihren Tugenden und Lastern, Ungleichheiten, Launen und Widersprüchen mit sich selbst, zugleich und auf einen Blick darzustellen. Es war keine leichte Aufgabe, eben dasselbe Volk rasch, jähzornig, unbeständig, ungerecht, leichtsinnig, hartnäckig, geitzig, verschwenderisch, stolz, grausam und unbändig auf der einen Seite, und mild, lenksam, gutherzig, mitleidig, gerecht, edel und großmüthig auf der andern, zu zeigen; oder vielmehr, er[205] unternahm etwas, das seiner Kunst unmöglich zu seyn scheint. Du bist vielleicht neugierig zu wissen, wie er es anfing? Das Gemälde stellt eine Athenische Volksversammlung vor, welche, nachdem sie in möglichster Eile irgend eine Ruhm und Gewinn versprechende Unternehmung beschlossen, eine summarische Rechnung über Einkünfte und Ausgaben des Staats abgehört, und einen General etwas tumultuarisch zum Tode verurtheilt hat, eben im Begriff ist auseinander zu gehen. Man zählt mehr als hundert halbe und ganze Figuren, von welchen die bedeutendsten in drei große Hauptgruppen vertheilt sind. In der ersten ist der Demagog, der so eben irgend ein ausschweifendes Project (etwa die Eroberung von Sicilien oder Aegypten) durch seine rhetorische Taschenspielerkunst durchgesetzt hat, die Hauptfigur. Das hoffärtigste Selbstgefühl und der Vorgenuß des Triumphs über den glücklichen Erfolg seiner Vorschläge, den er als etwas Unfehlbares voraussetzt, ist in der ganzen Person, im Tragen des Kopfs, im Ausdruck des Gesichts, und in der ganzen Haltung und Gebärdung des stolz einherschreitenden Projectmachers auf die sprechendste Weise bezeichnet. In den Gesichtern und Stellungen seiner ihn umgebenden Anhänger zeigt sich, in verschiedenen Schattirungen, Leichtsinn, Selbstgefälligkeit, Kühnheit und herausfordernder Trotz. Es ist als ob sie sagen wollten: »Das kann nicht fehlen! Arme Schelme! wir wollen bald mit euch fertig seyn! Wer kann den Athenern widerstehen? Was wäre Männern wie wir unmöglich?« Gleichwohl bemerkt man hinter jenen ein Paar Achselzucker, die dem Unternehmen einen unglücklichen Ausgang zu weissagen scheinen; ein dritter hängt[206] den Kopf so melancholisch als ob schon alles verloren sey; ein vierter scheint mit einem schwärmerischen Beförderer des Projects in einem lebhaften Wortwechsel begriffen zu seyn. Die zweite Gruppe drängt sich um den Schatzmeister der Republik, der seine Freude über die Gefälligkeit, womit ihm das Volk seine Rechnungen passiren ließ, unter einer sorgenvollen Finanzministermiene zu verbergen sucht. Ein Schwarm lockerer Brüder, im vollständigen Costume ausgemachter Kinäden und Parasiten, schlendern neben und hinter ihm her, und scheinen, in fröhlichem Gefühl, daß es weder ihnen selbst noch der Republik jemals fehlen könne, einen großen Schmaus auf den Abend zu verabreden. Ein anderer, der sich durch die schlaueste Schelmenphysiognomie auszeichnet, und etliche hungrige zu allem bereitwillige Gesellen hinter sich her schleichen hat, nähert sich dem Ohr des Ministers, und scheint ihn durch Darbietung der halb offnen Hand der versprochnen Erkenntlichkeit für den geleisteten Dienst erinnern zu wollen. Aber auf der Seite sieht man ein paar ältliche heliastische Figuren, mit bedenklichen Gesichtern, deren einer dem andern die Fehler in der abgelegten Rechnung vorzuzählen scheint, während ein dritter allein stehender, den sein schäbiger Kittel und ein Gesicht, das einer mit Zahlen beschriebenen Rechentafel gleicht, für das was er ist ankündigt, auf einem Stückchen Schiefer nachrechnet, und durch die Miene, womit er seitwärts nach dem Schatzmeister schielt, den nahen Staatsbankrott weissagt. Die dritte Gruppe begleitet den verurtheilten Feldherrn nach dem Gefängniß. Einige, die ihn zunächst umgeben, drücken in verschiedenen Graden Theilnehmung, Schmerz und Mitleiden[207] aus; während er selbst seinem Schicksal mit großherziger Entschlossenheit entgegen geht. In einiger Entfernung sieht man einen Haufen Sykophanten und falsche Zeugen hinter etlichen Männern von Bedeutung, die sich durch ihre boshafte Freude über den gelungenen Streich als die Feinde des verurtheilten Feldherrn ankündigen. Ein einzelner junger Mann, an eine Herme angelehnt, scheint durch seine Gebärde und einen wehmüthig scheuen Seitenblick auf das schuldlose Opfer einer schändlichen Cabale seine Reue zu verrathen, daß er die Anzahl der schwarzen Steine durch den seinigen vermehrt hat. Außer diesen Hauptgruppen erblickt man hier und da einzelne oder in kleine Haufen verstreute Figuren, die, an dem Vorgegangenen keinen Antheil nehmend, nichts Angelegener's zu haben scheinen, als der Palästra, oder dem Bad, oder dem Prytaneon, wo eine wohlbesetzte Tafel ihrer wartet, zuzueilen. Alles das ist mit eben so viel Geist und Leben als Fleiß und Zierlichkeit ausgeführt, und gewiß ist dieses in seiner Art vielleicht einzige Meisterwerk die große Summe werth, für welche ein reicher Kunstliebhaber zu Mitylene es vor kurzem an sich gebracht hat. Indessen, wiewohl ich gestehen muß, daß Parrhasius wo nicht die einzige, doch die sinnreichste und verständigste Art, das, was er uns durch dieses Gemälde zu errathen geben wollte, anzudeuten, ausfindig gemacht habe, ist doch nicht zu läugnen, daß seine Absicht, – wenn es anders seine Absicht war, die Veränderlichkeit und Vielgestaltigkeit des alle mögliche Widersprüche in sich vereinigenden Charakters des Athenischen Demos allegorisch darzustellen – nur unvollkommen und zweideutig dadurch erreicht wird. Denn was[208] er uns darstellt, ist nicht die personificirte Idee, die man mit dem Worte Volk verbindet, insofern ihm ein gewisser allgemeiner Charakter zukommt; sondern eine Menge einzelner Glieder dieses Volks, in der besondern Handlung, Leidenschaft oder Gemüthsstimmung, worein sie sich in diesem Moment gesetzt befinden. Die Arbeit, sich selbst einen allgemeinen Volkscharakter aus allen diesen Ingredienzen zusammenzusetzen, bleibt dem Anschauer überlassen; aber auch dieser kann doch, da alles das eben so gut zu Korinth oder Megalopolis oder Cyrene hätte begegnen können, weiter nichts als den Charakter des Volks in einer jeden Demokratie darin aufsuchen; und der Maler hat diesen Einwurf dadurch, daß er die Scene auf den großen Markt zu Athen setzte, höchstens aus den Augen gerückt, aber keineswegs vernichtet. Doch, wie gesagt, die Schuld, daß er nicht mehr leisten konnte, liegt nicht an ihm, sondern an den Schranken der Kunst; und, außerdem daß dieses Stück, bloß als historisches Gemälde betrachtet, alle Wünsche des strengsten Kenners befriediget, gesteh' ich gern, daß man auf keine sinnreichere Art etwas Unmögliches versuchen kann.

Ich bin durch diese zufällige Abschweifung ziemlich weit von dem, was ich dir schreiben wollte, weggekommen; aber da ich dieß treffliche Stück noch so frisch im Gedächtniß habe, und du eine so warme Liebhaberin der Kunst bist, so konnte ich, oder wollte ich – doch, wozu bedarf es einer Entschuldigung? Was ich geschrieben habe, steht nun einmal da, und ich komme noch immer früh genug dazu, dir ins Ohr zu sagen, daß du mir, wie es scheint, mit deinem Versuch, das Herz[209] meines alten Chirons durch eine Kriegslist zu erobern, keinen sonderlichen Dienst bei ihm geleistet hast. Ich finde ihn seit meiner Zurückkunft noch merklich kälter als zuvor, und seine Vertrauten begegnen mir so fremd und vornehm, daß ich oft alle meine Urbanität zusammennehmen muß, um – ihnen nicht ins Gesicht zu lachen. Aber ich habe eine andere Manier sie zu ärgern; ich thue als ob ich nichts merke, benehme mich gegen Meister und Gesellen wie vorher, und sehe den erstern fast täglich an öffentlichen Orten, wiewohl selten in seinem Hause. Um meine müßigen Stunden auszufüllen, übe ich mich mit einigen der besten Citharisten in der Musik, und lasse mir von dem berühmten Hippias Unterricht in der Redekunst geben. Er ist theuer; aber er könnte doppelt so viel fordern, ohne daß ich es zu viel fände, so groß ist das Vergnügen, ihn reden zu hören. Seine gewöhnliche Methode ist, heute für, morgen gegen einen Satz zu sprechen. Die Sokratiker nehmen ihm das übel; mit Unrecht, dünkt mich. Es gibt schwerlich ein besseres Mittel, die Urtheilskraft zu schärfen, und sich vor Einseitigkeit und Unbilligkeit gegen anders Denkende zu verwahren, als wenn man jede Sache von allen ihren Seiten und im verschiedensten Lichte betrachtet. Noch eine Ursache, warum ich den Um gang mit Hippias liebe, und ihn so oft als möglich sehe, ist seine große Menschenkenntniß; versteht sich, der wirklichen Menschen, wie sie leiben und leben, und des Laufs der Welt, nicht wie wir ihn alle gern hätten, sondern wie er ist. Du kannst dir leicht vorstellen, Laiska, daß ich mich durch diese kleine Vorliebe für einen Sophisten, von welchem die Anhänger des Sokrates,[210] besonders der junge Plato, mit der größten Verachtung sprechen, schlecht bei den letztern empfehle; zumal, da ich seit meiner Zurückkunft meine Art zu leben abgeändert habe, mich besser kleide, etliche Bediente und einen Sicilischen Koch halte, und wöchentlich ein oder zweimal die artigsten Leute, die ich hier kenne, zum Abendessen einlade. »Auch Hetären?« fragst du mit deiner eignen schelmischen Miene – Hetären? Nein, bei allen Grazien des weisen Sokrates und der schönen Lais! – Hoffentlich nimmst du das nicht so, als ob ich dir ein Compliment damit machen wolle. Ich würde mich selbst verachten, wenn mir eine solche Katachresis109 nur im Traum einfallen könnte. Nie, nie wird es mir möglich seyn, mir das liebenswürdigste aller weiblichen Wesen anders als einzig in ihrer Art, geschweige unter einer Rubrik zu denken, die ich auch dann, wenn sie mit lauter Korinnen, Melissen und Aspasien besetzt wäre, ihrer noch unwürdig finden würde. Ich kenne dermalen keine dieses Standes in Athen, die eine Gesellschaft, wie diejenige, die ich zuweilen bei mir versammle, zu verschönern liebenswürdig genug wäre. Aber schicke mir nur diejenige unter deinen Nymphen, die es am wenigsten ist, und sie soll durch einen einstimmigen Beschluß zur Königin unsrer kleinen Symposien ernennt werden.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 204-211.
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