56.
An Lais.

[324] Ja wohl, schöne Lais, darfst du mir alles vertrauen! Du, der die Grazien einen Freibrief gegeben haben, nichts zu sagen noch zu thun was Aristipp nicht gut fände. Zudem ist Kleonidas mein anderes Ich; was du ihm thust, ist mir gethan; und wär' es nicht unter deiner Würde, die edeln Dienste meines Freundes nicht auf eine edle Art zu belohnen?

Wird er seine Reise bald antreten? Mich verlangt sehr, seinen Tod des Sokrates vollendet zu sehen. Sobald ich höre daß er es ist, ergreife ich diesen Vorwand, um eine Lebende wieder zu sehen, die mir Amor selbst, wenn er ein Maler wäre, nicht zu Danke malen könnte, und – fliege nach Milet zurück.

Hippias meldet mir, daß er vor dem Ende dieses Monats zu Athen eintreffen werde, um von da nach Samos abzugehen, wo er seinen künftigen Wohnsitz aufzuschlagen beschlossen hat. Denke nur, der unbeständige Mensch hat die schöne Timandra einem seiner Freunde in Syrakus abgetreten! Ich weiß, schreibt er mir, nichts an ihr auszusetzen, als daß sie zu gut[324] für mich ist. Wahrscheinlich hat er irgend einen geheimen Beweggrund, warum er frank und frei zu Samos anlangen will. – Ich habe ihm eine Abschrift des Phädon zugeschickt, und ihn in deinem Namen ersucht, uns über den spekulativen Theil desselben seine Meinung zu sagen.

Inzwischen unterschreibe ich, ohne daß es mir die mindeste Gefälligkeit kostet, alles, was du Rühmliches von diesem sonderbaren prosaischen Gedichte gesagt hast. Denn eine Art von Gedicht ist es am Ende doch, und zum Dichter wäre Plato geboren gewesen, wenn ihn nicht sein böser Genius neben seinem natürlichen Hang zum Fabuliren und Allegorisiren, noch mit einem unwiderstehlichen Trieb sich selbst und andre in dialektische Spinneweben zu verfangen gestraft hätte. Da ihm die schlichte populäre Philosophie des Sokrates kein Genüge that, vertiefte er sich schon früh in den Grübeleien der Eleatischen und Pythagorischen Schule, die sich damit abgeben, das Innerste der Natur und den ersten Grund der Dinge, das Unendliche, den Ursprung der Welt, das Wesen der Materie und des Geistes, kurz, alles ergründen zu wollen, was nicht zu ergründen ist. Unbefriedigt schwärmte er nun von einem Systeme zum andern, baute bald auf diese, bald auf jene Hypothese, riß dann, wenn er wieder einige Zeit um Sokrates gewesen war, wieder ein was er gebaut hatte, und würde vermuthlich zuletzt unter lauter Ruinen gelebt und nie etwas Haltbares zu Stande gebracht haben, wenn ihn die Muse, die ihm als sein guter Dämon zugegeben ist, nicht immer antriebe, aus den Bruchstücken, die in seiner Phantasie über und durcheinander liegen, bald[325] diesen, bald jenen luftigen und schimmernden Zauberpalast zusammenzusetzen. Jetzt ist er noch so voll von diesen Materialien, daß ihm die Wahl weh zu thun scheint, und er uns lieber alles auf einmal geben möchte. In der That hat er in seinem Phädon so vielerlei für Person, Ort und Zeit Schickliches und Unschickliches zusammengedrängt, daß ich in diesem einzigen Dialog die Embryonen von zwanzig andern sehe, die er vermuthlich nach und nach auszubrüten gedenkt. Doch das möchte er immerhin, und viel Glücks dazu! Denn warum sollte er nicht Bücher schreiben, da er das Talent, seinen Gedanken jede beliebige Gestalt zu geben, und eine Fülle Attischer Redseligkeit in seiner Gewalt hat, und, sobald er nur will, den Verstand, die Einbildungskraft und das Gemüth seiner Leser zugleich in Bewegung zu setzen und zu unterhalten weiß? – Aber wenn er fortfahren wollte dem guten Sokrates die Hauptrolle in seinen philosophischen Dramen aufzudringen, und gerade dem Manne, der die Philosophie vom Himmel oder vielmehr aus dem windigen Reiche der »regenbeladnen Jungfrauen« des Aristophanes, wieder auf die Erde herabholte und in das häusliche und bürgerliche Leben der Menschen einführte, kurz sich ausschließlich mit einer Lebensweisheit beschäftigte, die für jedermann verständlich und brauchbar war, wenn Plato fortfahren wollte, seine Liebhaberey, abgezogene Begriffe bis zu einem unbrauchbaren Grad von Feinheit auszuspinnen, und die Leute mit Zweifelsknoten, die er selbst nicht aufzulösen weiß, zu beunruhigen, gerade diesem Manne vor die Thür zu legen; dieß, ich bekenn' es, würd' ich ihm nicht wohl verzeihen können. Freilich muß es[326] jedem erlaubt seyn, das Wahre, zu welchem so vielerlei Wege führen, auf demjenigen zu suchen, den er für den nächsten oder anmuthigsten hält; nur stelle jeder sich selbst vor, und nehme sich nicht heraus, das Gesicht eines andern zu einer Larve vor sein eigenes zu machen.

Daß Plato sich nicht zugleich mit dir in Athen befand, meine Freundin, hat deinen sieggewohnten Reizen vielleicht eine kleine Demüthigung erspart, wenigstens hättest du dich in einen Hylas157 oder Hyacinth158 verkleiden müssen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. – Doch ich will ihm keinen Vorwurf aus den Versen159 machen, worin er (damals selbst noch wenig mehr als ein Knabe) seine Leidenschaft für die schönen Knaben Aster, Alexis, Agathon u.a. (vielleicht nur um die Mode mitzumachen) eine sehr feurige Sprache reden ließ; denn es ist allerdings zu glauben, daß Sokrates, zu welchem er sich seit seinem zwanzigsten Jahre ziemlich fleißig hielt, ihm diese kleine Attische Unart abgewöhnt haben werde.

Ich gedachte mich nicht länger zu Ephesus zu verweilen, als nöthig war, eine alte Gastfreundschaft zwischen meiner Familie und einem hiesigen angesehenen Hause zu erneuern, und den weltberühmten Tempel der Ephesischen Göttin zu besehen. Zufälligerweise erfahre ich von dem alten Maler Evenor, daß sein ehmaliger Schüler Parrhasius (ein geborner Ephesier) täglich erwartet werde. Der alte Mann legte einen besondern Nachdruck auf das Wort Lehrling, und schien sich nicht wenig darauf zu Gute zu thun, daß er einen Schüler habe bilden können, der seinen Meister weit hinter sich zurückgelassen. Parrhasius langte den folgenden Tag an, und seine[327] Bekanntschaft hat so viel Anziehendes für mich, daß ich schon eine ganze Dekade länger hier bin, als anfangs meine Absicht war. Vielleicht wirst du das Vergnügen haben, ihn in Milet zu sehen. Ich wünsche es um Kleonidas willen, der, wofern wir dem stolzen Parrhasius verbergen daß er sein Nebenbuhler in der Kunst ist, vielleicht Gelegenheit fände, ihm das eine oder andere von seinen Geheimnissen, die Färbung zu behandeln, abzuhaschen. Denn es ist unglaublich, was der Mann mit seinen vier Farben für Wunder thut.

Du bist mir, aller Wahrscheinlichkeit nach, große Entschädigung schuldig, meine schöne Freundin, und ich will dich vorher gewarnt haben, nicht zu sehr zu erschrecken, wenn ich in irgend einer schönen mondhellen Nacht, da du mich am wenigsten erwartet hättest, auf einmal wie aus dem Monde gefallen, vor dir stehe, und mir – einen Abdruck des Kusses ausbitte, womit du den schönen Kleonidas unter die Götter versetzt hast. Denn dieß ist, nach dem Ton seines letzten Briefes zu schließen, der Fall mit ihm, wiewohl er so bescheiden ist, mir aus der Ursache seiner Apotheose ein Geheimniß zu machen.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 324-328.
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