35.
Lais an Aristipp.

[299] Veränderung ist die Seele des Lebens, lieber Aristipp. Ich habe mich entschlossen, nach deinem Beispiel ein wenig in der Welt herumzuschwärmen, und für den Anfang unter dem Geleit und Schutz eines mächtigen Thessalischen Zauberers eine Lustreise durch die nördlichen Theile von Griechenland zu machen. Mein Führer nennt sich Dioxippus, und könnte seiner Jugend und Schönheit wegen vielleicht sogar einer trotzigern Tugend, als die meinige ist, gefährlich scheinen, wenn mich nicht der Umstand beruhigte, daß er sein Geschlecht bis in die Zeiten von Deukalion und Pyrrha zurückführt, und da er also ohne Zweifel einen der menschgewordenen Steine, durch welche Thessalien nach der großen Fluth wieder bevölkert wurde, zum Stammvater hat, wahrscheinlich noch genug von der ursprünglichen Härte und Unempfindlichkeit desselben geerbt haben wird, um mir mit keiner übermäßigen Zärtlichkeit beschwerlich zu fallen. Uebrigens besitzt er, wie man sagt, große Güter in der Gegend von Larissa, und es wäre nicht unmöglich, daß es mir wohl genug dort gefiele, um mich zu einem längern Aufenthalt bei ihm zu entschließen; wär' es auch nur, um zu sehen, was ich von den berühmten Zauberkünstlerinnen dieses Landes in ihrem Fache etwa noch lernen könnte.

Mein Hauswesen zu Korinth und Aegina ist bestellt. Eine von meinen Korinthischen Pflegetöchtern hat Euphranor[300] von mir erschlichen; die stille freundliche Chariklea schwatzte mir ein begüterter Landmann von Epidaurus ab, der schon lang' ein Aug' auf sie geworfen hatte; die rüstige Melantho wird mein Haus zu Korinth regieren, und die kleine Eudora, die sich erklärt hat, daß nur der Tod sie von mir trennen könne, begleitet mich nach Thessalien.

Lebe indessen wohl, Aristipp, und sey versichert, wie unveränderlich auch meine Liebe zur Veränderung seyn mag, daß meine Freundschaft für dich noch unveränderlicher ist, und daß Lais dich nicht eher vergessen wird, als bis sie sich auf sich selbst nicht mehr besinnen kann.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 23, Leipzig 1839, S. 299-301.
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