44.
Lais an Diogenes von Sinope.

[323] Das war ein wunderliches Ereigniß, das sich zwischen uns begeben hat, meinst du nicht, Diogenes? Eines von denen, die einen weisen Mann an seinen eigenen Sinnen irre machen, und das du hoffentlich nur geträumt zu haben[323] glaubst. – Wie? was unter allen diesen stolzen, reichen, schönen und schimmernden Abkömmlingen von Göttersöhnen, die du täglich bei mir ein- und ausgehen siehst, in mehreren Jahren auch nicht Einer um keinen Preis erhalten konnte, sollte Diogenes, der Cyniker, binnen wenigen Wochen, ohne alle Mühe und Arbeit, durch bloße Laune des Zufalls oder Gunst eines schwachen Augenblicks erschlichen haben? Welche Wahrscheinlichkeit? – Gleichwohl geschehen auch unwahrscheinliche Dinge, und da das Geschehene am Ende doch immer unter die natürlichen Dinge gehört, so laß uns wie ein Paar verständige Personen mit einander darüber philosophiren.

Du bist, mit aller deiner Unverschämtheit, ein Mann, der sich nicht mehr dünkt als er ist, und mich kennst du bereits genug, um dich nicht zu verwundern, daß ich unter deiner rauhen struppichten Hülle das feine Gefühl sehr bald ausfindig gemacht habe, das du darunter zu verbergen suchst. Du kannst von mir nicht schlecht denken. So wenig du dich für einen Nireus oder Phaon halten kannst, so wenig kann es dir einfallen, daß Lais von deinen breiten Schultern und phlagonischen Markknochen bezaubert worden sey. – Aber Lais (denkst du) und wenn sie eine Göttin wäre, ist am Ende doch – ein Weib, und ein Weib hat Augenblicke, wie selten und kurz sie auch seyn mögen, wo sie ohne zu wissen wie noch warum – schwach ist, und, bloß darum weil sie sich dessen nicht versah, ausglitschen kann.

Wenn du so denkst, Freund Diogenes, und die Rede wäre von zehntausend und zehnmalzehntausend andern Weibern, so hättest du Recht; aber wenn du es von Lais[324] denkst, so irrest du himmelweit. Ich habe in meinem Leben keinen schwachen Augenblick dieser Art gehabt. Die meinigen, wenn man sie so nennen könnte, haben mit jenen nichts gemein als – die Wirkung. Ich sagte mir selbst: was sind alle diese Menschen die an mich Ansprüche machen, ihrem innern Gehalt nach, gegen diesen armen Paphlagonier, auf den sie so vornehm herunter sehen! Und doch würde es Diogenes für die lächerlichste Anmaßung halten, wenn ihm einfiele, sich unter jene Uebermüthigen zu stellen, die ein Recht an mich zu haben wähnen, weil ich schön und reizend bin, und in zwangloser Freiheit lebe. Seine Bescheidenheit soll belohnt werden! Der Mann, der, um den Göttern ähnlich zu werden, ein elendes Leben führt, soll einen Augenblick in seinem Leben gehabt haben, wo er ihnen an Wonne ähnlich war. – Hier hast du das ganze Geheimniß, mein guter Cyniker! – Mache nun einen weisen Gebrauch davon, und, um deiner selbst willen, suche nie wieder mich allein zu finden.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 23, Leipzig 1839, S. 323-325.
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