9.
Eurybates an Aristipp.

[197] Ich weiß nicht ob ich Recht hatte auf deine stillschweigende Einwilligung zu rechnen, lieber Aristipp; aber ich würde mich selbst der Undankbarkeit angeklagt haben, wenn ich das Vergnügen und die Belehrung, die mir deine Antiplatonischen Briefe gewährten, für mich allein hätte behalten wollen. Ich gestehe dir also, daß ich sie unter der Hand einigen vertrauten Freunden mitgetheilt habe; und da jeder von ihnen ebenfalls zwei oder drei vertraute Freunde besitzt, so geschah (was ich freilich voraussehen konnte) daß in kurzem eine ziemliche Anzahl[197] Abschriften in der Stadt herumschlichen, von welchen endlich eine unserm Freunde Speusipp und sogar dem göttlichen Hierophanten der Akademie32 selbst in die Hände gerieth. Daß die meisten Stimmen auf deiner Seite sind, wirst du hoffentlich für kein Zeichen einer bösen Sache halten. In tausend andern Händeln, die zur Entscheidung der Athener gebracht werden, dürfte ein solcher Schluß die Wahrheit selten verfehlen; aber die Mehrheit, die ich hier meine, ist von besserer Art; denn es versteht sich, daß nur die hellesten Köpfe in einer Sache wie diese ein Stimmrecht haben. Indessen fehlt es unserm Philosophen, der die Welt so gern allein belehren und regieren möchte, auch nicht an Anhängern, die sich mit Faust und Ferse für ihn wehren, und nicht den geringsten der Vorwürfe, die du ihm gemacht hast, auf ihn kommen lassen wollen. Sogar die männliche Erziehung und Polyandrie seiner Soldatenweiber findet ihre Vertheidiger, und ich kenne einen gewissen Gleukophron, der ein Gelübde gethan hat, weder in ein Bad zu gehen, noch seinen Bart zu salben, noch der süßen Werke der goldenen Aphrodite zu pflegen, bis er die geheimnißvolle Zahl im achten Buche herausgebracht habe, wiewohl die Redensart, dunkler als Platons Zahl, bereits zum Sprüchwort in Athen geworden ist, und alle unsre Geometer und Rechenmeister behaupten, das einzige Mittel sich noch lächerlicher zu machen, als der Aufsteller dieses arithmetischen Räthsels, sey sich mit der Auflösung desselben den Kopf zu verwüsten. Speusipp, der dir nächstens selbst zu schreiben gedenkt, zeigte mir unter vier Augen seine Verwunderung, nicht daß du so streng mit seinem Oheim[198] verfährst, sondern daß du dich habest enthalten können, ihn bei einer so guten Gelegenheit nicht mit noch schärferm Salze zu reiben. Er habe sich nicht wenig gefreut, sagte er, viele seiner eigenen Gedanken über dieses sonderbare Werk in deinen Briefen bestätiget zu finden, und wenn er etwas an den letztern tadeln möchte, wär' es bloß, daß du hier und da eher zu viel als zu wenig Gutes davon gesagt habest; zumal von der Schreibart, welche, seiner Meinung nach, nichts weniger als rein Attisch, geschweige musterhaft schön genennt zu werden verdiene; da sie nicht selten von allzugesuchter Zierlichkeit und geschwätziger Schönrednerei, noch öfter von Heraklitischer Dunkelheit und von Metaphern, die an einem jungen Nachahmer des Pindar und Aeschylus kaum erträglich wären, entstellt werde, und bald bis zur plattesten Gemeinheit herabsinke, bald wieder in die Wolken steige, um sich in dithyrambischen Schwulst und Bombast zu verlieren. Doch behauptet er, daß seine Fehler meistens nur von allzu großem Reichthum an Gedanken und einer zu üppig in Ranken, Blätter und Blumen aufschießenden Phantasie herrühren, und durch große und erhabene Schönheiten reichlich vergütet werden. Aber woher kommt es, frage ich, daß ein Leser, der Xenophons Anabasis oder Cyropädie nicht eher aus der Hand legen kann, bis er nichts mehr zu lesen findet, über Platons Politeia mehr als einmal einschläft, oder doch vor Gähnen und Ermüdung nicht weiter fort kann? Mir wenigstens, nachdem deine Briefe mich zu dem heroischen Entschluß gebracht haben, dieses Meer von Anfang bis zu Ende durchzurudern, ist es unmöglich gewesen anders als nach fünf- oder sechsmaligem[199] Absetzen und gewaltsamen neuen Anläufen damit zu Rande zu kommen.

Plato hatte so viel von deiner Beurtheilung des Werks worauf er seine Unsterblichkeit vornehmlich zu gründen scheint, reden oder vielmehr flüstern gehört, daß er (wie mir Speusippus sagt) endlich neugierig ward, sie selbst zu sehen. Er durchblätterte das Buch, und sagte, indem er es zurückgab: »es ist wie ich mir's gedacht hatte.« – Wie so? fragte einer von den Anwesenden. – Er lobt (versetzte Plato) wovon er meint er könnt' es allenfalls selbst gemacht haben, und tadelt was er nicht versteht. Eine kurze und vornehme Abfertigung, flüsterte jemand seinem Nachbar zu; aber eine laute Gegenrede erlaubte der ehrfurchtgebietende Blick des Göttlichen nicht, und so ließ man den unbeliebigen Gegenstand fallen, und sprach – von dem Thesmophoros des alten Dionysius von Syrakus, dem die Athener an dem letzten Bacchusfeste, aus Höflichkeit, Staatsklugheit oder Laune, den tragischen Siegeskranz zuerkannt haben. Daß er ihn verdient haben könnte, mußte diesen Tyrannenfeinden ein von aller Wahrscheinlichkeit gänzlich entfernter Gedanke scheinen, weil auch nicht Einer darauf verfiel. Bei dieser Gelegenheit erzählte jemand für gewiß: Dionysius habe die Schreibtafel des Aeschylus ich weiß nicht um wie viel Tausend Drachmen an sich gebracht, in Hoffnung (setzte der platte Witzling hinzu) es werde so viel von dem Geiste des Fürsten der Tragiker darin zurückgeblieben seyn, daß er nichts als dessen Schreibtafel nöthig habe, um Aeschylus der Zweite zu werden. Er mag sich dessen um so getroster schmeicheln, sagte Plato, da ihm so feine Kenner[200] des Schönen, als die Athener sind – oder seyn wollen, eine Urkunde darüber zugefertigt haben. – In diesem Ton und in diesem Geiste müssen vermuthlich alle Handlungen dieses in seiner Art gewiß großen Mannes ausgelegt worden seyn, oder es wäre unmöglich, daß eine bereits dreißigjährige glückliche und in so vielen wesentlichen Stücken musterhafte Staatsverwaltung ihm nicht einen bessern Ruf unter den Griechen erworben hätte.

Ich habe vor kurzem von Kleonidas und Antipater Briefe erhalten, die mir sehr angenehme Nachrichten von meinem Lysanias und von eurer fortdauernden Zufriedenheit mit ihm ertheilen. Er selbst fühlt sich so glücklich in eurer Mitte, und verspricht sich so viel Gutes von seinem Aufenthalt in dem gastfreundlichen Hause meines Aristipps, daß ich kein so gefälliger Vater seyn müßte als ich bin, wenn ich ihm seine Bitte um Verlängerung desselben nicht mit Vergnügen zugestände, insofern er sich nicht zu viel schmeichelt, da er deine Begünstigung seiner Wünsche für etwas Ausgemachtes hält.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 24, Leipzig 1839, S. 197-201.
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