11.
Aristipp an Speusippus.

[209] Ich danke dir, lieber Speusipp, für das sehr angenehme Unterpfand deines wohlwollenden Andenkens, und für dein mildes Urtheil von meinen Briefen an Eurybates, welchen, däucht mich, das Beiwort antiplatonisch nur sehr uneigentlich gegeben wird, da sie wenigstens eben so viel Lob als Tadel enthalten, und mit gleichem Recht proplatonisch heißen könnten.

Verschiedenheit der Vorstellungsart wird Männer nie entzweien, deren Freundschaft, wie die unsrige, auf Uebereinstimmung der Gemüther in allem, was den Charakter edler und guter Menschen ausmacht, gegründet ist.

Der Unterschied deiner und meiner Art über Platons Philosophie zu denken scheint mir (den Einfluß der nahen Verwandtschaft und anderer Betrachtungen abgerechnet) hauptsächlich in dem Mehr oder Weniger Festigkeit und Ruhe des Gesichtspunkts gegründet zu seyn, woraus wir beide überhaupt die Dinge anzusehen pflegen; aber ich liebe die Aufrichtigkeit, womit du die wahre Ursache deines noch immer unentschiedenen Schwankens zwischen dem gemeinen Menschensinn und der philosophischen Mystagogie deines Oheims gestehest,[209] und ich müßte mich sehr irren, oder die Vorliebe, die du zu gewissen Zeiten für sein System in dir findest, und die Leichtigkeit, womit du in einer andern Stimmung darüber scherzen und lachen könntest, entspringt aus einer und eben derselben Quelle; nur daß sie in jenem Fall reiner und geistiger, in diesem etwas dicker und milchartiger fließt.

Es gibt, wie du weißt, angenehme und sogar wohlthätige Täuschungen; aber es ist immer gut, in allen menschlichen Dingen (unter welche ich auch die meteorischen und göttlichen rechne) klar zu sehen; zu wissen, wann, wo, und wie wir getäuscht werden, und auf keine Art von Täuschung mehr Werth zu legen als billig ist. Die Stimmung, in welcher die Platonischen Mysterien so viel Reiz für dich haben, und worin das, was sie uns offenbaren, dir wirklich das Innerste der Natur aufzuschließen scheint, ist (mit deiner Erlaubniß) nur dem Grade nach von derjenigen verschieden, worin der tragische Pentheus zwei Sonnen und zwei Theben, oder seine Mutter Agave35 das abgeriss'ne Haupt ihres Sohnes für den Kopf eines jungen Löwen ansieht. Die Phantasie ist immer eine unsichere Führerin, aber nie gefährlicher, als wenn sie sich die Larve der Vernunft umbindet und aus Principien irre redet. Doch was sage ich von Gefahr? Für dich, lieber Speusipp, können diese sublimen Träume nichts Gefährliches haben, wenigstens so lang' es nur ein lustiges Gastmahl oder einen Kuß der Lasthenia bedarf, um dich aus den überhimmlischen Räumen in deine angeborne Höhle herabzuzaubern.

Um so weniger hätte ich mir also ein Bedenken darüber[210] zu machen, wenn mich die Lust ankäme, das zierliche Gebäude von Spinneweben, worein du deine geliebten Ideen gegen allen Angriff geborgen zu haben glaubst, mit einem einzigen Hauch umzublasen? – Doch nein! wenn ich auch aus dieser scherzenden Drohung Ernst zu machen vermöchte, wer wollte einem Freund ein harmloses Spielzeug mit Gewalt aus den Händen drehen? Alles was ich mir erlauben kann, ist, dir meine Weise über diese Dinge zu denken darzulegen, und es dann deinem eigenen Urtheil zu überlassen, ob du Ursache finden wirst, mich von der Beschuldigung einer allzugemächlichen Gleichgültigkeit im Forschen nach Wahrheit loszusprechen.

Ist es nicht sonderbar, daß wir vom Nichts entweder gar nicht reden müssen, oder uns so auszudrücken genöthigt sind als ob es Etwas wäre? Freilich sollten wir, da dem Worte Nichts weder eine Sache noch eine Vorstellung entsprechen kann, gar kein solches Wort in der Sprache haben. Was ist Nicht-Seyn? Ein Unding, ein hölzernes Eisen, eine unmögliche Verbindung zwischen Nein und Ja, kurz etwas sich selbst Aufhebendes. Was ist, ist, und da es nie Nichts seyn konnte, so liegen in dem Begriff des Seyns alle Arten von Seyn: gewesen seyn, itzt seyn, künftig seyn, immer seyn, nothwendig enthalten. Mit der dilemmatischen Formel, »Seyn oder Nicht-Seyn« ist gar nichts gesagt; hier findet kein »oder« statt; Seyn ist das Erste und Letzte alles Fühlbaren und Denkbaren. Indem ich Seyn sage, spreche ich eben dadurch ein Unendliches aus, das alles was ist, war, seyn wird und seyn kann, in sich begreift. Indem ich also mich selbst und die meinem Bewußtseyn sich aufdringenden Dinge um mich her, denke,[211] ist die Frage nicht: woher sind wir? oder warum wir? – sondern das Einzige was sich fragen läßt und was uns kümmern soll, ist was sind wir? Und ich antworte: wir sind zwar einzelne aber keine isolirten Dinge; zwar selbstständig genug, um weder Schatten noch Widerscheine, aber nicht genug, um etwas anders als Gliedmaßen (wenn ich so sagen kann) oder Ausstrahlungen (wenn du es lieber so nennen willst) des unendlichen Eins zu seyn, welches ist, und alles, was da ist, war, und seyn wird, in sich trägt. Da all unser Denken im Grund entweder auf Anschauen oder bloßes Rechnen mit Zeichen hinausläuft, das Unendliche aber sich weder überschauen noch ausrechnen läßt, so bleibt mir, wenn ich mir das wie meines Daseyns im Unendlichen einigermaßen klar zu machen wünsche, kein anderes Mittel als mir an dem dürftigen Begriff genügen zu lassen, den ich durch Bilder und Vergleichungen erhalten kann; z.B. mit einem Baum oder einem gegliederten Körper, der aus einer unendlichen Menge von Theilen zusammengesetzt ist, von welchen jedes seine eigene Art und Weise, Gestalt, Bildung und Einrichtung hat, aber sich doch nur dadurch in seinem Daseyn erhalten und gedeihen kann, daß es mit dem Ganzen in engester Verbindung steht, und von dem aus demselben und durch dasselbe strömenden und durch alle Theile sich ergießenden Leben seinen Antheil empfängt. Jedes Blatt eines Baums ist in dieser Rücksicht zugleich ein kleines Ganzes und Theil eines größern, des Zweiges, so wie dieser einem Ast, der Ast (an Stärke und Fülle der Zweige und Blätter oft selbst ein Baum) dem Hauptstamm einverleibt[212] ist. Wenn mir diese von materiellen Dingen erborgte Vergleichungen kein Genüge thun wollen, stelle ich mir das unendliche Ist (welches durch das geheimnißvolle Ει im Tempel zu Delphi36 bezeichnet zu seyn scheint) unter dem Bilde der Seele, und alles was durch und in ihm ist, wie die Gedanken vor, welche, wiewohl durch die Kraft der Seele erzeugt und gleichsam aus ihr hervor strahlend, doch weder außer ihr seyn, noch als Bestandtheile von ihr betrachtet werden können. Aber unter welchem Bilde ich mir auch in gewissen Augenblicken das große Geheimniß der Natur zu symbolisiren suchen mag, der einzige Gebrauch, den ich davon mache, ist: die ewige Grundmaxime der ächten Lebensweisheit daraus abzuleiten, die zugleich die Regel unsrer Pflicht und die Bedingung unsrer Glückseligkeit ist. Denn natürlicher Weise trägt die Ueberzeugung, »daß ich nur als Gliedmaß des unendlichen Eins da seyn, aber auch nie gänzlich von ihm abgetrennt werden kann,« eine zwiefache Frucht: erstens, die feste Gesinnung, daß ich nur durch Erfüllung meiner Pflicht gegen das allgemeine sowohl, als gegen jedes besondere Ganze dessen Glied ich bin, in der gehörigen Unterordnung des Kleinern unter das Größere, glücklich seyn kann; und zweitens die eben so feste Gewißheit, daß ich, wie beschränkt auch meine gegenwärtige Art zu existiren scheinen mag, dennoch als unzerstörbares Glied des unendlichen Eins, für Raum und Zeit meines Daseyns und meiner Thätigkeit kein geringeres Maß habe, als den hermetischen Cirkel – die Unendlichkeit selbst. Ich weiß es nicht gewiß, aber ich vermuthe, daß sich Plato bei seinem Auto-Agathon[213] ebendasselbe denkt, was ich bei meinem Unendlichen; wenn man anders bloßes Hinstreben nach etwas Unerreichbarem Denken nennen kann: aber das ist gewiß, daß ich keinen speculativen Gebrauch oder Mißbrauch davon mache, und mich nur deßwegen nicht bekümmere mehr davon zu wissen, weil ich fühle, daß indem ich einen schwindelnden Blick in diese unergründliche Höhe und Tiefe wage, ich bereits über der Gränze alles menschlichen Wissens schwebe.

Was Platons Ideen betrifft, so gestehe ich dir unverhohlen, daß ich nach allem was mir seine Dialogen davon geoffenbaret haben, mir keine Idee von ihnen zu machen weiß. Sie sind weder bloß gedachte noch personificirte allgemeine Begriffe; auch sind es nicht die Erscheinungen, die der begeisterten Phantasie des Dichters, Bildners oder Malers vorschweben, wenn er nach dem Höchsten seiner Kunst, dem Uebermenschlichen und Göttlichen, nach vollkommner Schönheit, Stärke und Größe ringt. So wie Plato von ihnen spricht, können sie nichts dergleichen seyn, wiewohl ich vermuthe, daß du in den Momenten der geistigen Anschauungen, wovon du sprichst, sie mit jenen verwechselst. Was sind sie also? Ich weiß es nicht; aber das weiß ich, daß der Platonische Tisch, der weder klein noch groß, weder rund noch dreieckig, weder von Holz noch von Elfenbein, noch von Gold oder Silber ist, der nicht dieser oder jener Tisch, sondern der Tisch selber, der Tisch an sich und das einzige Exemplar seiner Art im Lande der Ideen ist, neben den künstlichen goldnen Dreifüßen im Palast des Homerischen Hephästos37 eine schlechte Figur macht. Wie kommt Plato[214] dazu, daß er den abgezogenen Begriffen von Arten und Gattungen, deren wir Menschen bloß als erleichternder und abkürzender Hülfsmittel zum Denken und Reden benöthigt sind, Selbstständigkeit und wirkliches Daseyn außer uns gibt? Die Natur hat ihm schwerlich dazu angeholfen; denn sie stellt lauter einzelne Dinge auf, und weiß nichts von unbestimmten Formen, nichts von Körpern, die weder klein noch groß, weder rund noch eckicht, weder aus diesem noch jenem Stoffe gemacht sind. Sie kennt nur Aehnlichkeit und Verschiedenheit in unendlichen Graden und Schattirungen; die Abtheilungen, Einzäunungen und Gränzsteine sind Menschenwerk. Der Maulwurf steht mit dem Elephanten auf eben derselben Linie, wie viel andere Thiere auch zwischen ihnen stehen mögen, und die Verschiedenheit zwischen einem Elephanten und einem andern, ist, wiewohl nicht so stark in die Augen fallend, doch nicht minder groß als die Aehnlichkeit. Weil alles Mögliche wirklich ist, so muß nothwendig der Unterschied zwischen den Wesen, die einander die ähnlichsten sind, kaum merklich seyn; wir übersehen also das, worin sie verschieden sind, fassen sie unter dem Begriff einer Art zusammen, und bezeichnen sie mit einem gemeinsamen Wort. Durch das nämliche Verfahren erhalten wir, indem wir die ähnlichsten Arten unter Ein gemeinschaftliches Wort stellen, den höhern Begriff der Gattungen. Das Bedürfniß einer Sprache, und das Gefühl der Nothwendigkeit, den auf uns eindringenden Vorstellungen Festigkeit und Ordnung zu geben, nöthigt den Menschen zu dieser ihm natürlichen Anwendung seines Verstandes, und es wäre nicht schwer (wenn[215] es mich nicht zu weit führte) zu zeigen, wie es zugeht, daß es ihm unvermerkt eben so natürlich wird, diese Abtheilungen und Classificationen für das Werk der Natur selbst zu halten, wiewohl sie nichts anders als Producte seiner durch den Drang des Bedürfnisses erregten instinctmäßigen Selbstthätigkeit sind. – Dieß hat mich wenigstens eine mäßige Aufmerksamkeit auf die Natur gelehrt, und wenn Speculiren um bloßen Speculirens willen meine Sache wäre, so dächte ich auf diesem Wege ziemlich weit zu kommen. Aber ferne von mir sey die Anmaßung, dich, mein liebenswürdiger Freund, oder irgend einen andern Sterblichen von einer Vorstellungsart abzuziehen, die ihm einleuchtet, wobei er gutes Muthes ist, und wodurch keinem andern Weh geschieht. Auch die Philosophie ist in gewissem Sinn etwas Individuelles, und für jeden ist nur diejenige die wahre, die ihn glücklicher und zufriedner macht als er ohne sie wäre.

Uebrigens danke ich der schönen Lasthenia, daß sie sich ihres entfernten Freundes so großmüthig annimmt, und finde sehr billig, wenn sie (ohne sich des geheimen Beweggrundes bewußt zu seyn) etwas Reelleres in der Welt vorzustellen wünscht, als ein bloßes Schattenbild des Platonischen Urweibes, welches weiter nichts zu thun hat, als im Lande der Ideen umher zu stolziren, und zehntausendmal zehntausend Myriaden mächtig von einander abstechender Weiberschatten auf diese Unterwelt herabzuwerfen; eine Verrichtung, wobei die Dame, wie groß ihre Selbstgenügsamkeit auch seyn mag, endlich doch ziemlich Langeweile haben dürfte, wenn anders ihr präsumtiver Gesellschafter und Liebhaber,[216] der idealische Urmann, neben seinem eignen gleichen Tagewerk, nicht noch Mittel und Wege findet, ihr auf eine uns Sterblichen unbegreifliche Weise die Zeit zu kürzen.

Ich gestehe dir, lieber Speusipp, daß ich große Lust hätte, diesen platten Scherz, seines ächten Atticismus ungeachtet, wieder auszustreichen, wenn ich nicht eine geheime Hoffnung nährte, daß er deinem erhabenen Oheim vielleicht Anlaß geben könnte, sich über die zur Zeit noch unbegreifliche Natur seiner Ideen etwas deutlicher zu erklären. Denn in der That, wenn er uns nicht mehr Licht über diese wunderbaren Wesen zukommen lassen wollte als bisher, hätte er besser gethan, uns gar nichts davon zu offenbaren.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 24, Leipzig 1839, S. 209-217.
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