Die Belagerung von Leiden.

[162] Leidens Belagerung macht einen denkwürdigen Abschnitt in der holländischen Geschichte. Zum ersten Mal scheiterte die spanische Macht vor einer holländischen Stadtmauer. Vom Oktober 1573 bis zum März 1574 lag der spanische Oberst Valdez mit einem starken Heer vor der Stadt und schnitt zu Lande und zu Wasser ihr alle Zufuhr ab, wodurch er die Bürgerschaft in die grenzenloseste Noth, aber nicht zur Uebergabe brachte. Nachdem die Belagerten alle Hunde, Katzen, Ratzen und Mäuse, die sie fanden, als Leckerbissen verzehrt, fristeten sie ihr Leben durch Baumblätter, die sie in Salz und Essig tunkten. Nur einmal bemächtigte sich ihrer die Verzweiflung. Männer, Weiber, Kinder, Greise, ein langer Zug von Geistern, schleppten sich hohläugig und mit versagenden Knieen nach dem Rathhause und forderten unter Geschrei und Drohungen entweder Brod, oder offene Thore. Der[163] vorsitzende Bürgermeister trat hervor und sprach: »Bürger, ihr wißt, ich habe meinen letzten Bissen mit euch getheilt. Jetzt nehmt mich selber hin, schlachtet mich, viertheilt mich, stillt euren Hunger mit meinem Herzen; aber die Stadt übergebe ich nicht. Bürger, ich beschwöre euch, gebt der Hoffnung noch einige Frist, denn die Hülfe ist nahe.« Nach diesen Worten legte sich der Aufruhr. Die Bürger erschüttert, weinend, umfaßten die Knie ihres Bürgermeisters, vertheilten sich wieder in ihre Häuser, auf die Wälle, um aufs neue zu streiten und zu hungern.

Van der Werf heißt der Mann, dessen Seelengröße in diesem entscheidenden Augenblick die Stadt und höchst wahrscheinlich ganz Holland rettete. Wunderbarer Erfolg eines raschen, großen Gedankens, dem ohne Zweifel wirkliche Hingebung zu Grunde lag. Denn mehr als Wort und rednerische Blume muß das gewesen sein, was er sprach. Niemand speist verhungerte Menschen mit Worten ab. Niemand flicht dem Tiger, Hunger genannt, eine Kette aus Blumen der Beredtsamkeit. Ein hungriges Volk zum Aufbruch der Bäckerladen zu reizen, dazu braucht man weder Demosthenes noch Cicero zu sein. Um aber den Rest edler Gefühle, um Scham, Mitleid, Muth, Hoffnung, im blutlosen Herzen eines verhungerten[164] Volks aufzuwecken, dazu muß man mehr sein, als Cicero und Demosthenes, mehr als Redner, ein Mann der That. Van der Werf war ein solcher. Er that für Leiden dasselbe, was Ripperda für Harlem. Er gehörte zu den Männern, von denen man sagt, daß sie ganz allein vor die Bresche treten. Nicht genug kann man des Prinzen von Oranien Scharfblick rühmen, der gerade die tauglichsten, entschlossensten Männer im kritischen Augenblick dorthin postirte, wo viel, ja Alles von ihnen abhing. Beide, van der Werf und Ripperda, waren Partisane des Prinzen, und vom Ersteren weiß ich sicher, daß er Wilhelm seine Stelle verdankte.

Nun höre man auch den Verfolg und das glückliche Ende, das van der Werfs standhaften Muth und der Bürgerschaft Entsagungen krönte. Ins Mittel schlugen sich der Zufall und das Schicksal, der Zufall in Gestalt eines Mädchens und das Schicksal in der Person des Prinzen von Oranien, den man wohl mit Recht das personificirte Schicksal der nördlichen Niederlande nennen kann.

Der Zufall oder ein Mädchen auf folgende Art. Der Anführer des spanischen Belagerungsheeres, Franz Valdez, hatte sich verliebt in eine schöne Haagerin und machte ihr den Hof. So[165] viel Zeit er sich abmüssigen konnte im Lager, brachte er in den Armen seiner Geliebten, im benachbarten Haag zu. Während dessen ereignete sich in der belagerten Stadt oben erzählter Vorfall. Valdez, mehr als je von der Entmuthigung und Erschöpfung der Bürger überzeugt, beschloß allgemeinen Sturm. Zufällig aber ging dem Tage, den er zur Ausführung dieses Plans anberaumt, eine Gesellschaft zu Ehren seiner Geliebten vorher, der er sich nicht entziehen mochte, weil er dies Fest selbst veranstaltet hatte. Er entschlüpfte nach dem Haag und fand Magdalena Moons – das war der Name seiner Geliebten, die auch späterhin seine Frau ward – aber nicht in der heitersten Stimmung. Unruhig fragte er sie nach der Ursache ihrer Trauer. Ich sollte nicht traurig sein, sagte Magdalena. Ich weiß Alles. Morgen läßt du stürmen, und eine Stadt, die ich liebe, wo ich so viel Freunde und Verwandte habe, wird vom Jammergeschrei der Beraubten und Gemordeten wiederhallen. Warum ich nicht heiter bin? Wie kann ich jemals in meinem Leben wieder froh und heiter werden, wenn du dein Vorhaben glücklich ausführst. – Ach die Stimme, die Klage, die Thräne eines Mädchens, das wir in den Armen halten und das ihr Gesicht von uns abwendet – auch Valdez fühlte ihre Kraft und Bezauberung. Er[166] gab ihr auf der Stelle heimlich das Versprechen, nicht zu stürmen, Leiden überhaupt nicht im Sturm einzunehmen. Um so eher glaubte er, was die Liebe ihm abnöthigte, mit der Pflicht zu reimen, um so überzeugter er ohnehin war, es werde die ausgehungerte Stadt von selbst und ohne Verguß eines Bluttropfens in Kurzem sich ergeben.

Der Mensch denkt, Gott lenkt. Niemals machte ein Gast unter dem Monde so sehr seine Rechnung ohne den Wirth, als Franz Valdez vor Leiden. Der Prinz von Oranien war kein müssiger Zuschauer von der Belagerungsscene gewesen. Ohne hinlängliche Landmacht nicht im Stande, den Spaniern auf gewöhnlichem Wege auf platter Erde und trockenem Boden die Spitze zu bieten, hatte er sich ein zuverlässiges, obwohl kostbares Mittel ausgedacht, seine Absicht, die Entsetzung der bedrängten Stadt, zu erreichen. Zu Delft, seinem gewöhnlichen Aufenthalt, ließ er eilig eine Flotte zimmern, eine Art Floßschiffe mit niedrigem Boden, ungefähr hundertundfunfzig an der Zahl. Diese bemannte er mit seinen seeländischen Wassergeusen, die damals zuerst ihr Schild mit der Umschrift, lieber türkisch als papistisch, auf den Hut steckten, und nachdem er die Staaten von Holland zur Durchstechung der Maas- und Ysseldeiche bewogen – eine Ueberschwemmung die sieben[167] Tonnen Goldes zu stehn kam – ließ der auf dem zum Wasser gewordenen Lande seine Flotte nach Leiden auslaufen. Die nichts ahnenden Spanier wurden plötzlich durch den seltsamsten und wunderbarsten Anblick der Welt in Schreck und Staunen gesetzt. Sie hätten, bemerkt Strada, diesen Vorgang bewundert, wie die Römer ihre Schauspiele, in denen sich vor den Augen des Volks Wälder und Felder auf einen Wink in Seen und der Kampf zu Lande in ein Seetreffen sich verwandelten, hätten sie nicht zugleich bemerkt, es sei das neue Element mit seinen schwimmenden Soldaten nur zu ihrem Untergang heranbeschworen. Dennoch gaben sie nicht gleich die Hoffnung auf, sich zu halten, wenn gleich die, die Stadt durch Hunger zu bezwingen, gleich Anfangs zu Wasser wurde, indem Frachtschiffe mit Lebensmitteln aller Art glücklich in die Stadt drangen. In diesem Augenblick zeigte sich der spanische Soldat seines Alba würdig. Unverzagt machten sie den Versuch, das an- und aufschwellende Wasser einzudämmen, und dem doppelten Feind die Spitze zu bieten. Aus den niedrigen Verschanzungen beinahe mit Gewalt herausgeschwemmt, flüchteten sie in die höheren, und wie einst nach Cäsars Commentarien die Nervier gegen Quintus Cicero, so gruben sie mit ihren Schwertern in die Erde und trugen[168] Erdklumpen in Helm und Harnisch zusammen. Doch alle Mühe half zu nichts. Des Wassers wurde immer mehr und mehr und eine plötzliche Springfluth, die mit Westwind heranstürzte, erhöhte die Gefahr. Sie mußten flüchten. Doch eben die Flucht war Vieler Tod. Man denke sich das Schreckliche ihrer Lage und das Mißverhältniß des Kampfes, sie zu Fuß, ihre Feinde und Verfolger zu Schiff. Das Wasser ging ihnen an den Nabel, mitunter bis an den Mund und durch ihre aufgelösten Reihen, kreuz und quer schifften die Wassergeusen und trieben mit ihnen mehr die blutige Kurzweil eines Fischfanges, als sie auf einen menschlichen Zweikampf sich einließen. Die Spanier wurden im eigentlichen Sinn harpunirt wie die Fische, denn die Holländer warfen Stricke mit eisernen Haken nach ihnen aus und zerrten sie todt oder lebendig, im Fleisch oder nur an Hosen und Wämsern in die Böte, wo sie über einander aufgeschichtet lagen. Dennoch, in dieser Todesnoth, fehlte es einigen Spaniern nicht an Muth und Geistesgegenwart. So ergriff ein harpunirter Feldwebel, der, für todt angesehen, im Boote lag, ein Beil zu seinen Füßen, stürzte sich wie das Wetter unversehens auf die gräßlichen Fischer, hieb den ersten, zweiten, dritten von hinten zu Boden, jagte die übrigen ins Wasser und kam mit mehreren[169] Spaniern, die er unterwegs aufnahm und rettete, glücklich und wohlbehalten bei der Hauptmacht des Valdez an.

Ich kann diese Darstellung nicht schließen, ohne zugleich der glücklichen Folgen zu gedenken, welche die ruhmvoll überstandene Gefahr für die Stadt Leiden hatte. Die Universität war die erste und unmittelbare Folge. Die Stiftung derselben durch den Prinzen von Oranien, der den Einwohnern die Wahl zwischen ihr und Abgabenfreiheit auf eine Reihe von Jahren überließ, fällt gleich ins Jahr 1575, also kaum ein Jahr nach Abzug der Spanier. Eine andere Folge war das Herbeiströmen der in den katholischen Niederlanden bedrängten und verfolgten Wollarbeiter, die in Leiden einen erprobten und sichern Zufluchtsort sahen. Zu diesen kamen in späterer Zeit die refugiés Ludwigs des Vierzehnten. Dadurch allein kam die Stadt so sehr in Flor, daß sie eine Zeit lang mehr Hände mit Wollspinnen allein beschäftigte, als gegen wärtig leider Gabel und Messer darin führen. Denn die Gewerbe der Stadt sind seit dem Utrechter Frieden eben so heruntergekommen, wie die Universität, weil, wie es scheint, die Industrie in Holland überhaupt aus Mangel an nationalem Kunstsinn und rechter Kunstbefähigung keine Wurzel fassen kann. Zahlen werden die Zu- und Abnahme[170] am schnellsten erläutern: 14,000 Menschen zur Zeit der Belagerung, wovon 6000 darauf gingen; 80,000 zur Zeit des westphälischen Friedens, kaum 30,000 gegenwärtig. Auch die Universität wird im Durchschnitt nur von 450 Studenten besucht. Früher machten allein die Engländer, die zu Leiden hörten, eben so viel und mehr aus.

Quelle:
Ludolf Wienbarg: Holland in den Jahren 1831 und 1832. Erster und Zweiter Theil, Hamburg 1833, S. 162-171.
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