VI

[150] Von den Wiener Theatern der Siebziger- und Achtzigerjahre wäre wohl noch viel zu sagen, wenn mir nicht die Redseligkeit fehlte; vom Strampfer-Theater unter den Tuchlauben an, das nun wohl fast vergessen ist, aber auch seinen Frühling (ohne Sommer) hatte, bis zu den neueren Schöpfungen hin, die das gewaltige Wachstum Wiens wie organische Ergänzungen begleitet haben. Laubes Stadttheater, ein großes, nur allzu groß gedachtes Unternehmen, brachte neue Dichter, neue Schauspieler, darunter starke, dauerhafte, zum Teil noch heut blühende Talente: ich will nur die Schratt und Tyrolt nennen. Das Carl-Theater gedieh unter Aschers Leitung, mit Matras, Knaack, der Gallmeyer und andern; im Theater an der Wien sang und herrschte die Geistinger, machte Anzengruber seine großen Schritte. Jauner brachte dann neues Quecksilberleben in die Bühnenwelt; Schweighofer und Girardi wuchsen zu Meistern heran. Mir spielte sich Girardi mehr als alle andern ins Herz hinein; in seiner schönen Werdezeit ward er mir sozusagen der Inbegriff von Wiener Humor, Wiener Blut, Wiener Grazie. Wer nichts vom Girardi hat, hab' ich wohl zuweilen gedacht, ist kein echter Wiener. Als ich später in Berlin, am Deutschen Theater, Joseph Kainz persönlich kennen lernte, ging[150] mir das Herz auf, sobald ich sah: das ist ja ein höherer, poetisierter Girardi, Girardischer Humor unterm Romeo-Wams – kurz, ein echter Wiener!

Wie um mir zu beweisen, ich hätte recht, hat er dann auch, in demselben Deutschen Theater, den Zwirn im »Lumpazivagabundus« gespielt; aus dem Romeo-Wams kam sein Girardi heraus an die Luft.

Möchte ihm die angeborene, wienerisch natürliche Grazie im Burgtheater und in der neueren Komödie nicht zu Schaden kommen!

Ganz und gar nicht Wiener, ganz norddeutsch war Anton Ascher, den ich zufällig häufiger sah und gern wiedersah, weil er unterhaltend, witzig, nicht ohne Geist war. Auch als Schauspieler stand er seinen Mann, im feineren Lustspiel wie im Schwank; im Carl-Theater, das er damals als Direktor führte, war er eine seiner wirksamsten Kräfte. Ihn verfolgte das Glück (wenn sich nicht seine Intelligenz als Glück verkleidet hat; ich möcht' es glauben): Wien strömte in sein Carl-Theater, er ward ein wohlhabender, ein reicher Mann, der sich in diesem Sonntagskleid dann zur Ruhe setzte. In meinen ersten Wiener Jahren war er noch ganz Theatermann; und wie gut er auch außerhalb der Bühne spielte, wie sehr er gefiel, erlebte ich zuerst auf dem großen Bankett im Kursalon, das die »Concordia« dem alten Bauernfeld zu Ehren gab, um sein fünfzigjähriges Dichterjubiläum und seinen einundsiebzigsten Geburtstag zu feiern. Es war ein Massenaufgebot der literaturfrommen Menschen Wiens; es war spät geworden, viele der »führenden Männer« hatten geredet, manche viel zu lang; jetzt war es nur noch das Summen[151] und Rauschen eines ungeheuren Bienenkorbs, der entschlossen schien, keinerlei Tischrede mehr anzuhören, weder Ernst noch Scherz, weder Vers noch Prosa. Eduard Mautner, der Dichter, versuchte doch noch durchzudringen, er war bis zum Rand gefüllt, er hatte zu Hause seine Harfe geschlagen und ein warm beredtes (wie sich am andern Tag in den Blättern zeigte), aber gefährlich langes Festgedicht verfaßt, das noch laut werden wollte. Er stand auf und sprach es; vergebens; drei, vier um ihn her hörten zu, der ganze Saal summte weiter. Seine Stimme wuchs, immer fürchterlicher; er schrie, er gab den zartesten Gefühlen die ungeheuersten Töne; er kämpfte, wie ein gutes, tapferes Schiff mit der Brandung kämpft. Die Brandung rauschte weiter. Niemand hörte ihn. Endlich sank er auf seinen Stuhl zurück.

Ich hatte dem mit lachendem Mitleid zugesehn, denn sehr komisch war es; gleich darauf begann man in einem andern Teil des Saals aufzustehn, sich um einen Tisch zu drängen; jemand schien zu sprechen, eine dünne Stimme. Ich ward neugierig und trat auch hinzu. Anton Ascher war aufgestanden, um etwas zu reden; sofort erhob sich eine Stille um ihn, die ihre Wellen weiterwarf. Lachende Gesichter. Da stand der schlanke, magere, elegante Mann mit den scharfen, trocken humoristischen Zügen, dem klug spöttischen Blick, den langen, brieskastenähnlich schmalen Lippen, die sich sonderbar nach den Seiten dehnten, wenn er sprach. Nichts vom Jubilar, von Bauernfeld; er fing an, seine eigene Lebensgeschichte zu erzählen: »Anton war der Sohn armer, aber jüdischer Eltern...« In dieser Weise[152] ging es fort. Seine Stimme war etwas heiser, grau, ohne Stärke; nur gut geschult, durch seine Tonwechsel unvermerkt zu wirken. Alles hörte zu. Alles wollte hören, was aus Anton wurde. Schmunzeln, Lächeln, Lachen, Erfolg.

Ich hab' vergessen (oder nicht immer verstanden), was aus Anton wurde; es war aber derselbe witzig trockene Vortrag, mit dem ich ihn einmal über die Tugend reden hörte. Er konnte so gut fallen lassen; damit hielt er's oben. Fast ohne Stimme, ohne Ton, über alles weggleitend warf er hin: »Die Tugend – sie mag eine schöne Sache sein – ich kenne sie nicht – –«

Acht, neun Jahre später sah ich ihn in Gastein als Rentner wieder; er hatte freilich fast so viel verloren als gewonnen: sein schönes Vermögen ersetzte ihm seine sehr geschwächte Gesundheit nicht. In guten Stunden witzig und guten Humors wie vordem, war er in andern ein dunkler Hypochonder, ängstlich, mit seinem Wohl und Weh heimlich sorgenvoll beschäftigt. Auf jedem Spaziergang folgte ihm sein Diener (auch beim schönsten Wetter Aschers Überzieher auf dem Arm), denn auf jedem Spaziergang konnte den Kränklichen etwas Böses treffen. Ein mitleidweckender Lebensabend: der reichgewordene arme Mann; ich mußte an den Mann im Pelz, den ehemaligen Kammerdiener in Raimunds »Verschwender« denken – wenn auch mit Pelz und Überzieher die Ähnlichkeit aufhört.

Nur von einem Schauspieler möchte ich hier noch reden, einem allergrößten: Tommaso Salvini; denn wenn er auch kein Deutscher ist, in Wien und nur in Wien hab' ich ihn gesehn. Salvini war nicht der erste[153] bedeutende Schauspieler, der aus Italien nach Österreich und Deutschland zog: Rossi war schon vor ihm gekommen (von der viel früher erschienenen Ristori nicht zu reden) und hatte in Wien Anerkennung, Bewunderung, Begeisterung gefunden. Mich riß er (1873 und 1874) weniger hin; ich fand ihn als Othello sehr interessant, voll naturwahrer Momente, aber fast ohne Poesie, als Kean höchst lebendig, zuweilen bedenklich manieriert, als Beaumarchais im »Clavigo« unzulänglich. Jetzt kam mit Salvini (1877) ein in sich Vollendeter; ein Mann, der nicht alles konnte: im Lustspiel, so in der Commedia »Sulivan« nach Melesville, fehlte ihm die wahre Lustigkeit, der Leichtsinn sozusagen; alles Große aber spielte er groß, und kein Dichter, dünkt mich, konnte höher hinauf als er. Es war etwas Antikes in ihm: nichts von modernen »genialen Blitzen« oder blendenden naturalistischen Einfällen, aber eine wunderbare Harmonie aller Gaben, männlichste Kraft, inniges Gefühl, großer Verstand, tiefe Leidenschaft, gediegenes Arbeiten, und ein herrliches Organ, das alles konnte. Dieser Regenbogen von guten Gaben floß so zur Einheit zusammen, daß es reines Licht gab; man konnte ihn daher klassisch nennen: die Natur ward in ihm zum Stil, der Stil zur Natur.

Zur vollen Harmonie gehört beim Schauspieler selbstverständlich die äußere Erscheinung; auch da fehlte nichts. Die große, durch und durch männliche Gestalt mit breiter, gewölbter Brust, kurzen römischen Armen trug einen ebenso männlichen Kopf, der die glücklichste, ausdrucksfähigste Bühnenschönheit hatte. An das, was wir »welsch« nennen, erinnerte eigentlich nichts an ihm; es war ein[154] Mann von Ernst und Würde, von liebenswerter Freundlichkeit, natürlicher Vornehmheit, der ausgezeichnet Italienisch sprach. So schaute denn auch nie – und ich war oft mit ihm zusammen – ein Komödiant heraus. Und doch hatte die Natur ihn ganz fürs Theater geschaffen; das sah man, wenn dieser feste Mann als Othello mit wunderbar elastisch schwebenden Löwenschritten über die Bühne ging, oder wenn er als »Sohn der Wildnis« unter seinem Baum aus dem Schlaf heraus tektosagisch knurrte, oder wenn er als Corrado in »La morte civile«« sich in langsamem Sterben schauerlich verfärbte.

Ich erinnere mich, meine Frau fragte ihn einmal: »Wie machen Sie das, nicht bloß Ihre Züge, auch Ihre Farben so ganz zu verändern?« Er erwiderte, er tue nichts, er sterbe nur, er erlebe das. Da er sich wenig schminkte, konnte sein Gesicht vor unsern Augen alle Farben spielen; und indem er sich so ganz dem Sterben hingab, erblaßte er, ward bläulich, grün – doch noch mit einer herzergreifenden Schönheit des Ausdrucks, die ihn nur verließ, wenn er zuletzt als toter Körper nicht zurück oder seitwärts, sondern vornüber sank.

Dies und auch sein Hinsterben als Othello überschritt für mich die Grenze der Schönheit; eben dies mochte seine Landsmännin Donna Laura Minghetti meinen, wenn sie ihn mir gegenüber einmal »caricato« nannte. Sonst erinnere ich mich keines Augenblicks, in dem ich nicht das große Gefühl gehabt hätte, einen reinen, durchaus geläuterten und geadelten Künstler zu sehn, der zur schönsten Meisterschaft aufgestiegen war.

Während seines ersten Wiener Gastspiels, im Februar,[155] März, April 1877, sollle er freilich noch unkl die Freude haben, den Wienern, dem ganzen Wien für diesen Meister zu gelten; so international war die Welt damals noch nicht. Heutzutage fliegen die großen Künstlernamen wie Störche oder Schwalben über die Alpen herüber; damals war »Salvini« für den Norden ein Wort ohne Klang, oder eine Glocke, der der Klöppel fehlt. An der Wiener Presse lag es nicht, daß die Salvini-Abende (die sich langsam folgten) gewöhnlich schwach, zuweilen kläglich besucht waren: sie pries ihn mit Wärme, mit Verständnis, sie wies bei jeder neuen Rolle auf seine eigentümliche Größe hin. Es blieb aber lange bei »den wenigen, die ihn gern hatten«, um mit Josephine Gallmeyer zu reden; einige Häuflein oder Scharen von Begeisterten konnten die große »Komische Oper« nicht füllen, und Salvini mit seiner italienischen Truppe gewann nur Ehre, die »kein Bein ansetzen kann«, und verlor sein Geld. Er trug das mit Fassung und Würde; erst da übermannte ihn die Empörung, als bei der zweiten Aufführung von »La morte civile« das Haus ganz gefüllt war, weil – Dom Pedro, der Kaiser von Brasilien, ein Bewunderer Salvinis, in einer Loge saß und sich eben diese Vorstellung ausgebeten hatte. Man lief hinein, um die südamerikanische Majestät zu sehn. Salvini brauste in seinem besten Italienisch auf; er wollte am andern Tag fort, das Gastspiel abbrechen, nicht mehr weiterspielen. Es blieb bei dem Wollen, er war ein Mann. Es schien nun auch, als ob das Schicksal die Majestät bestellt hätte, um Stimmung zu machen: der Besuch nahm zu und die letzten Vorstellungen – »Macbeth«, zweimal nacheinander[156] – waren ausverkauft. Lorbeerkränze flogen; einer mit sieben Rosen, auf die meine Frau – ebenso begeistert wie ich – seine sieben Wiener Rollen hatte schreiben lassen. Nun, da seine Zeit zu Ende ging, jubelte man ihm zu: er konnte abreisen, er war durchgedrungen.

Bald nach seiner Ankunft hatte er uns besucht, wir sahen ihn dann oft, zuletzt nach jeder Vorstellung, in dem nahegelegenen »Hotel de France«, in dem er wohnte. Graf und Gräfin Wickenburg, die wie wir in jede seiner Aufführungen gingen und ihn aufs höchste bewunderten, wurden auch mit ihm befreundet wie wir; im »Hotel de France« waren wir vier die »Stammgäste« an seinem Tisch. Einige andere kamen dazu, nach der ersten Aufführung des »Macbeth« auch Sonnenthal, der Salvinis ganze Größe fühlte; nach der.Abschiedsvorstellung auch die noch blutjunge Stella Hohenfels, die sich uns in ihrer Begeisterung angeschlossen hatte. Wir saßen in der Zahl der Musen um den Tisch, plauderten in der festlichen Erregung dieses letzten Abends und in der Wehmut des Scheidens. Salvini hatte meiner Frau ein paar italienische Verse auf ihren Fächer geschrieben; die Hohenfels nahm den Bleistift, und um ihre Gefühle irgendwie loszuwerden, schrieb sie auf das Tischtuch (da sie nicht Italienisch konnte): »Salvini est un ange.« Ich sah's und zeigte es ihm. Er lachte, und er freute sich. Vielleicht hatte er ihr auch schon angesehn, daß diese junge Burgschauspielerin auch dazu bestimmt sei, auf einen hohen Gipfel zu steigen.

In Salvinis Spiel war viel Offenbarendes, Erschließendes; darin erscheint er mir als der größte von[157] allen, die ich hab' »agieren« sehn, während im Reichtum an Gemütstönen – so her Kerschmelzend Salvini auch den unglücklichen Corrado im »Bürgerlichen Tod« spielte – Sonnenthal ihn und alle überbietet. Ingomar im »Sohn der Wildnis«, wie ihn Halm gedichtet, ist ein nicht übel gezeichneter Barbar, der in guten und schlechten Versen seine gemütlich derbe Wildheit nach und nach in Verliebtheit und Kultur verwandelt, ein gut spielbarer Theaterheld; als ich ihn von Salvini sah, erlebte ich mit einem fast unheimlichen, wundervollen Staunen die unzweifelhafte Wirklichkeit. Der Mann lebte noch! Ein junger Tektosagenhäuptling, durch irgend ein Wunder dem allgemeinen Schicksal entronnen, in seinem Walde weiterhausend, wie Barbarossa im Kyffhäuser oder im Untersberg. Ja gewiß, so waren sie, diese alten Kelten! Den alten Germanen ähnlich, wohl ein wenig biegsamer, weicher, von griechischer oder römischer Kultur ein wenig leichter zu packen, wenn der richtige Mittler kommt; umso leichter, wenn der Mittler Amor heißt. Herrlich, schauerlich bäumt sie sich noch dagegen auf, die eingeborene Wildheit; herrlich erliegt sie nach und nach. Ja, so erlag sie, wenn ihre Zeit, ihre Stunde kam! So ist es gewesen!

Oder als ich ihn zum erstenmal den Hamlet spielen sah: es war der erste Hamlet, den ich ohne Schwanken und Fragen begriff, in dem mir alle Rätsel schwanden; er war er und mußt' es sein. Und schön, daß er so sein mußte, traurig tragisch schön: so viel Geist, so viel Adel, so ein wundersames Leben, solch ein edles Sterben; und ein so ersehnter Tod! – War es ganz Shakespeares Hamlet? Vor dieser Gestalt eine[158] müßige Frage; sie sprach Italienisch – wie sie bei uns Deutsch, auch nicht Englisch spricht – aber sie sprach so sehr Shakespeares Geist und Sinn, wie der Italiener es kann und soll. Wenn Polonius den scheinbar wahnsinnigen Hamlet fragt, was er da lese, so antwortet der englische Hamlet kurz, und offenbar ohne Pausen: »Words, words, words!« Ebenso der Deutsche: »Worte, Worte, Worte!« Salvini, von seiner wohllautenderen Sprache angestiftet, machte ein längeres Spiel daraus, in das er unglaublich viel Geist, Bitterkeit und Anmut legte: »Parole – e poi parole – e poi parole!« – Durch so ein Beispiel möcht' ich zeigen, wie er zuweilen in Nebendingen seinen eignen Weg ging; in allem, was Hauptsache, Wesen war, schritt er fest und groß dem Dichter nach, mit dessen Atem er lebte.

Das »Offenbarende« seines Spiels hab' ich aber wohl nirgends stärker gefühlt, als wenn er Hamlets Monologe sprach; sprach? Er spielte sie, er lebte sie. Er trat irgendwo hervor, sein Gang, seine Haltung, sein gesenkter, dann sich hebender Blick sagten schon, was die Zunge dann sagen sollte; wir wußten es schon, sie wiederholte es nur. Er sprach und er schwieg; sein Gesicht, unsern horchenden Augen hingegeben, füllte sich; seine Stirn belebte sich; endlich war's, als ginge die Hirnschale weg und wir sähen das Denken, Fragen, Fühlen in Hamlets Gehirn. Wir erlebten ihn. Dann sprach er wieder. Ja, so war's! Lautgewordenes Denken! – Etwas von diesem muß jeder haben, der den Namen Schauspieler verdient; aber so wie bei Salvini hab' ich's nie empfunden.[159]

Der Italiener hat einen angeborenen Vorteil vor dem Deutschen: sein Körper ist lebendiger, ausdrucksvoller, und wie die Gestalt sprechen auch seine Züge mit. Daher ist er von vornherein mehr Schauspieler als der Nordländer, der nach körperlicher Selbstbeherrschung und Ruhe trachtet; er »lebt einfach auf der Bühne weiter«, wie Lenbach es nannte. Salvini, ein Toskaner, machte von dieser nationalen Erbschaft sehr viel weniger Gebrauch, als es die Süditaliener tun; er war eher sparsam mit Gebärdenspiel; auch das trug dazu bei, daß man seine Kunst »klassisch« nennen konnte. Aber er war doch ein Sohn seines Volks, seine vieldeutigen Züge konnten reden, wie er wollte. Da sie nie zu gesprächig waren, so sprachen sie nie umsonst oder vorbei, so sah und hörte man alles, was sie sagten.

Freilich hatte auch jedes seiner Worte Leben; er war ein Sprecher, wie es nicht viele gibt. Er besaß eine unendliche Fülle seiner Schattierungen, fortleitender Übergänge, stimmungweckender Gegensätze; jeder Ton hatte Seele. Ihn auch darin zu studieren, war ein immer neuer Genuß; mehr noch eine Anregung, sozusagen ein Unterricht. Ich hab' zeitlebens gern Gedichte gesprochen, für andere oder für mich; in dieser Zeit ging mir's wunderbar: wenn ich Abends einsam schlenderte, kam es über mich, Goethesche oder andere Gedichte vor mich hinzusagen, sie lebten ganz anders als sonst, sie füllten sich mit Farben, mit Schönheit, mit Seele. Salvinis Vorbild arbeitete in mir.... Zwischen zweien seiner letzten Gastspielabende sah ich meine Frau im Burgtheater, sie spielte die Adelheid in Frey, tags »Journalisten«. Ich staunte, wie viel reicher, ausdrucksvoller,[160] lebensvoller sie noch spielte als sonst; wie viel hat ihr Salvini genützt! mußt' ich immer denken.

An der Gefahr, durch Gastspielreisen mehr und mehr »Virtuos« zu werden, kommt wohl niemand so unberührt vorbei, wie Odysseus an den Sirenenfelsen; also wohl auch Salvini nicht. Die Hingebung, die Andacht kann bei so vielen Wiederholungen derselben Rollen nicht dieselbe bleiben; nur zu leicht stellt sich entweder eine Abschleifung oder eine Überladung ein, von der seinen Linie der »goldenen Mitte« gleitet man zu leicht nach rechts oder links herunter. Trat das auch bei Salvini ein? Ich kann nichts darüber sagen, ich hab's nicht erlebt. Paul Lindau, der ihn hernach in Berlin sah, sehr bewunderte, kennen lernte, erzählte mir einmal, wie er während einer Vorstellung mit ihm zwischen den Coulissen gesprochen, wie Salvini mit lebendigster, freiester Gemütlichkeit geplaudert habe; plötzlich hab' er sich umgedreht, mit einem Ruck hinaus auf die Bühne – und im nächsten Augenblick mit der großen Glockenstimme ganz Hamlet oder ganz Othello, ich weiß nicht was. Indessen beweist das nicht (und sollte es auch in Lindaus Mund nicht beweisen), daß Salvini damals oberflächlicher, unbeteiligt spielte; das gründlich geschulte Gehirn eines bedeutenden Menschen kann mit blitzartiger Schnelligkeit aus einem Seelenzustand in den andern springen; ja die künstlerische Erregung liebt oft solche Sprünge, ihr ist wohl dabei. Ich habe während dieses ersten Wiener Gastspiels Salvini in den meisten seiner Rollen zweimal, als Hamlet dreimal gesehn; mir fiel fast jeden Abend auf, daß er sich keineswegs »eingewerkelt« getreu wiederholte, daß er in Gang[161] und Spiel und Rede durch allerlei lebenatmende Änderungen überraschte.

Als er von uns schied, nahm er mir das Versprechen ab, wenn wir im Oktober nach Florenz kämen (wir planten es), mit meiner Frau bei ihm in seiner Villa zu wohnen. Wir sind leider nicht gekommen, es fügte sich nicht; und ich hab' ihn später wohl noch spielen sehn, aber ihm nicht mehr die Hand gedrückt oder ein Glas auf sein Wohl getrunken. Er verließ die Bühne früh, mit der Entsagung eines Philosophen: er wollte der Gefahr entgehn, sich zu überleben; denn abnehmen ist für den Edlen schon sich überleben. Nur an einem Ehrentag seines Sohnes, seines Nachfolgers – so las ich in den Zeitungen – hat er noch einmal mitgespielt. Möchte er noch lange an seinem erinnerungsreichen, ehrenreichen Leben in genußfroher Gesundheit schöne Freude haben!

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Erinnerungen. Stuttgart, Berlin 21905, S. 150-162.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Erinnerungen
Erinnerungen (Aus Der Werdezeit) (Sammlung Zenodotautobiographische Bibliothek) (Paperback)(German) - Common

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Leo Armenius

Leo Armenius

Am Heiligen Abend des Jahres 820 führt eine Verschwörung am Hofe zu Konstantinopel zur Ermordung Kaiser Leos des Armeniers. Gryphius schildert in seinem dramatischen Erstling wie Michael Balbus, einst Vertrauter Leos, sich auf den Kaiserthron erhebt.

98 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon