IX

Kabale und Liebe und Werther. Kleistbiographie; Berlin, Eggers' Gast. Zöllner. Pfuel. Unterbrechung des Kleistbuchs; Vollendung. Dresden; Semper; Rethels. Gmunden; dramatische Versuche. Der Ramsauer. Der Müllerssohn

[115] Jeder Mensch, der dichterisch Geschaffenes tief empfinden kann, hat wohl aus der Werdezeit einige seelische Erlebnisse dieser Art, die er nie vergißt. Ich hatte als Knabe oft das Glück, die Sommerferien (leider nur ein Monat) zur Stärkung meiner etwas zarten Gesundheit in Rostocks Seehafen Warnemünde zu verbringen, bei einem Großonkel, den ich herzlich liebte und der mich, als ich größer wurde, großväterlich heimlich duldsam aus langen Pfeifen rauchen ließ. Er war Landwirt gewesen, seine Bücherei war klein: Rostocker Chronik, Rostocker Gesangbuch und Schillers Werke. Ich las Schiller dort Jahr für Jahr, und vor allem »Kabale und Liebe«; das ergriff mich auf ganz eigene Art. Ich konnte keine Träne weinen und doch war in mir ein Tränenmeer; so fühlte ich meine Brust gefüllt. Es war die himmlische Wollust eines tiefen, schweren, vernichtend erhebenden Drucks, den ich für kein ungemischtes Freudegefühl hingegeben hätte.[115]

Und diese unaussprechliche Wirkung kehrte jeden Sommer wieder.

Ich war fünfzehn Jahre alt, als die Mutter meiner Mutter starb; die einzige von meinen Großeltern, die ich gekannt, eine zarte, liebreiche Frau, deren Jugendschicksal ich später in einer Novelle »Die Brüder« erzählt habe. Sie heiratete, sechzehn Jahre alt, den einen dieser Brüder, fühlte dann mehr und mehr, daß sie den andern liebte und daß er sie liebte; nach tiefen seelischen Leiden gab der Gatte sie frei, der in schwärmerischer Liebe an dem Bruder hing; der von ihm bittend angerufene Landesherr und Landesbischof trennte die Ehe, und Annette ward die Gattin des andern, zu langem und glücklichem Bund. Als sie uns nun verlassen hatte, sollte aus ihrem kleinen Bücherschatz auserlesen werden, was von Wert war und in der Familie bleiben sollte; mich, den jungen »Bücherwurm«, bestimmte man dazu, diese Auswahl zu treffen. In einem damals unbewohnten und leeren Zimmer unseres Hauses kauerte ich bei dem Bücherhaufen am Fenster, und wie Aschenputtel die Linsen aus der Asche las, las ich die guten Bücher aus dem Pöbel ohne Wert heraus. Ein abgegriffener alter Schmöker fiel mir in die Hand: »Leiden des jungen Werther«; der erste Druck. Ich hatte vom Werther bis dahin nur gehört, ihn noch nicht gelesen. Ein wenig hineinschauen! dachte ich, legte das Buch auf das Fensterbrett, kniete davor nieder und fing auf der ersten Seite an. Ich las und las. Ich geriet in einen Zustand, den ich nie erlebt; Staunen, Rausch, Entzückung, selig verzehrendes Mitgefühl, Hinschmelzen in jede Seelenpein,[116] hochaufrasende Schwärmerei, Wonne der Selbstvernichtung, schaurig süßes Vergehn. Wie haben die Knie es ausgehalten? Es waren zwar Turnerknie. Sie hielten es aus. Das Buch war zu Ende, als ich wieder aufstand, so tragisch glücklich wie je ein Mensch.

Noch einmal hab' ich ähnlich gefühlt: als ich mit achtzehn Jahren den Werther zum zweiten Mal las. Ich erstaunte grenzenlos, daß er mich zum zweiten Mal so zerschmettern und verhimmeln konnte. Es fehlte aber doch das Knien und die Überraschung.

Das sind allerhöchste Erlebnisse und zugleich die mächtigsten Beweise unsrer unergründlichsten Eigenschaft: daß wir für diese an Tragik so reiche Welt auch tief tragisch angelegt, das heißt, mit wunderbarer Genußkraft für das Tragische ausgerüstet sind; was einen ähnlichen Zusammenhang verkündet wie das Goethesche (ursprüngliche Plotinsche) Wort:


Wär' nicht das Auge sonnenhaft,

Die Sonne könnt' es nicht erblicken.


So ganz verzückt hab' ich mich bei keiner andern Dichtung und keinem andern Dichter gefühlt; auch nicht bei Heinrich von Kleist; aber auch er ist mir früh und tief ins Herz gedrungen, es sind Töne in seiner schmerzvoll hochgestimmten Leier, die mich wie wenige andere ergreifen. Es störte meine Seelenruhe, daß ein Mann mit so »eigenstem Gesang« noch nicht zum allbekannten Nationaldichter geworden war; und als ich die Süddeutsche Zeitung und München verließ,[117] erschien mir gleichsam als die nächste Pflicht, ein Kleist-Herold zu werden und die bei Sybel gelernte historisch kritische Methode an einer Biographie dieses vernachlässigten Dichters zu bewähren. Nach ausruhendem Aufenthalt in der Heimat ging ich nach Berlin, in des preußischen Dichters Luft und Land, und stürzte mich in die Vorarbeiten, die ich zu durchschreiten hatte, um mein Kleistbuch zu schreiben.

Friedrich Eggers empfing mich mit den offensten Armen; daß ich bei ihm wohnen mußte, war ihm selbstverständlich. Er trat mir ein Zimmer ab, seine Junggesellenwohnung ward dadurch etwas eng, was tat das; er war philosophisch genügsam, ich auch. Mit ihm und mit seinem nach Berlin übersiedelten Bruder Karl und dessen Frau lebte ich halb familienhaft; Otto Roquette schloß sich gerne an, der damals an seiner Geschichte der deutschen Literatur schrieb, und als neuen Freund gewann ich Wilhelm Dilthey, den jungen, um einige Jahre älteren Philosophen, an dessen sein bohrendem und grabendem Denkerkopf ich gern meinen Phantasierkopf rieb. Unser Humorist war der Regierungsrat Zöllner, den ich aus dem Kuglerschen Hause kannte, Eggers' Freund, halb Schweriner, halb Berliner, in dem aber doch wohl der mecklenburgische Humor überwog. So oft er zu uns kam, war mir's wie Theater: wenn »Tante Randow«, wie wir alle Eggers' gemütlich phlegmatische Haushälterin nannten, ihm auf sein Klingeln die Wohnungstür öffnete und ich von meinem Zimmer aus seine Stimme hörte, ging mir schon ein heiteres Gefühl durch die Brust, wie wenn der allbeliebte[118] Komiker auf die Bühne tritt. Er überschüttete die »Tante« mit einer seiner angenehm verrückten Anreden – die hohe Stimme war wie für graziösen Unsinn geschaffen – dann drang er bei mir ein und zog mich im Augenblick aus der ernstesten Arbeit in seine urfidele Stimmung. An solche Erfolge war er denn auch gewöhnt, und er »ulkte« wohl auch damit. Einmal mit Eggers im Wirtshaus beim Speisen, brennt er eines seiner Feuerwerke von Späßen und Witzen ab, immer heller, lauter. Eggers wird immer verlegener; endlich flüstert er: »Du, deine Stimme dringt so durch; es sind ja mehr Leute da, du fällst auf; ich bitte dich –!« Da hebt Zöllner seine Stimme noch mehr: »es ist das Vorrecht bedeutender Naturen, überall aufzufallen!« und Eggers sinkt beinahe unter den Tisch.

Auch in die »seine«, geheimrätliche Welt suchte man mich hie und da zu ziehn, lud mich in ihre Gesellschaften ein; aber wie aus einer ungemütlichen Schlinge zog ich bald meinen Hals heraus und hielt ihn nicht wieder hin. Seit ich mit den Süddeutschen, mit Bayern, Franken und Schwaben gelebt hatte, war mir das norddeutsch »Gebildete«, das so oft überbildet und verbildet war, vollends leidig geworden; in einer Epistel an Frau Klara Kugler entlud ich diese grimmig spöttischen Gefühle:


Unter Fracks und Krinolinen

Geht er nun, der zahm gewordne Bär,

Modisch, mit modernen Mienen,

Gleich den Kindern der Kultur umher!

Hört nun friedlich, zwischen Schlaf und Wachen,[119]

Ihrer Rede wohlgemeßnen Tritt

Und das glatte, wohlerzogne Lachen

Und er lacht nun wohlerzogen mit...

Amor gähnt und schläfrig bleibt er stehn,

Muß er statt beherzter, holder Kinder

Diese nachgemachten Blumen sehn!

Wenn sie steif an ihren Stühlen kleben,

An des Frohsinns Kelch bedächtig nippen,

Treu der Mode nach Belehrung streben,

Papageienweisheit auf den Lippen!

Ach, bei dieser Kerzen Licht

Sucht Diogenes vergebens!

Fern im Dunkel such' ich meines Lebens

Guten Stern, dein liebes Angesicht.


Diese Mädchen- und Frauenart stirbt wohl so wenig aus wie des Künstlers Widerspruch. Viele Jahre später, als ich auf einem Bahnhof wartete, schrieb ich (wohl in etwas gereiztem Zustand) in mein Taschenbuch:


Dürftige Leiber,

Kleine Seelen,

Die sich als Weiber

Nie verfehlen;

Deren Wuchs schon klar

Verkündigt,

Daß sie nie fürwahr

Gesündigt;

Große Füße,

Schmale Lippen,

Die das Süße

Entsagend nippen;[120]

Aber wehrhaft

Ist die junge,

Streng und lehrhaft

Beredte Zunge.

Solche Frauen

Freien die Toren,

Die sehend nicht schauen,

Selbst Professoren! – –


Mittlerweile setzte ich meine Vorarbeiten fort, verbrachte ein paar Tage in Kleists Geburtsstadt, Frankfurt an der Oder, suchte seine Todes- und Ruhestätte am Wannsee auf und den einzigen noch lebenden Freund des Dichters, den dreiundachtzigjährigen General Ernst von Pfuel, der in Berlin einsam hauste und vier Jahre später starb. Der alte Herr empfing den wißbegierigen jungen Schriftsteller mit beinahe herzlicher Freundlichkeit, in junggesellenhafter Verwahrlosung, ohne Rock, in einer Art von Kamisol und ungefähr wie eben aus dem Bett gestiegen. Sein verwitterter Kopf lebte aber bei meinen Fragen warm und wärmer auf; er verjüngte sich an den Erinnerungen aus so ferner Zeit, die er mit erstaunlich frischem Gedächtnis und zum Teil mit Feuer erzählte. Ich sah, wie klar und unverwischt ihm das alles vor den Augen stand. In meinem Buch konnte ich manches verwenden aus der sofort entstandenen Niederschrift; die alte Exzellenz habe ich nur dies eine Mal gesehn.

Endlich konnte das Kleistbuch geschrieben werden; in vier Wochen etwa, aber mit einer Unterbrechung, die mir eine der merkwürdigsten Lehren meines Schriftstellerlebens[121] war. Ungefähr die Hälfte war fertig, mit gewohnter Rastlosigkeit in Schaffenswonne aufs Papier geworfen. Als ich am nächsten Morgen fortfahren will und zuvor die letzte Seite überlese – pfui, was ist das für Zeug! geht mir mit einer Art von Ekel durch den Kopf. Das ist leblos, blutlos, öde; soll das deine erste Schöpfung sein? Schreibt man so über Heinrich von Kleist? Durch meinen ganzen Menschen zog ein Widerwille, freilich auch eine Abspannung, eine Unlust der Nerven, die ich dumpf verspürte. Weit lebendiger verspürte ich die Verachtung gegen mein Geschreibsel; ich warf es in die Schublade. Weg damit! So nicht!

Zum guten Glück kam gerade mein Bruder Heinrich angereist, mein ehemaliger Berliner Stubenkamerad, der sich nach starken Strapazen ein wenig zerstreuen und erholen wollte. Ich entschloß mich rasch, wohl von einem gesunden Instinkt getrieben: so lange er hier ist, leb' ich ganz für ihn und mit ihm! Friede Eggers schloß sich uns an; wir durchreisten Berlin, flogen aus, hatten gute und gefüllte Tage; zehn oder mehr? Ich weiß es nicht. Als Bruder Heinrich, schön erfrischt, wieder abreiste, war ich's offenbar ebenso. Ich setzte mich am andern Morgen wieder an den Schreibtisch, holte mein Manuskript hervor, las die verachtete letzte Seite, las weiter rückwärts – und staunte. Nur die letzte Seite war schlecht; alles andere so gut wie das frühere, so gut, wie ich's konnte. Auch die Schaffenslust war wieder da, Jugendfeuer, alles; und klares Erkennen dazu. Hatt'st zu rasch und zu viel, hatt'st dich müd geschrieben! Die schuftige letzte Seite stolpertest du noch so in der Abspannung hin;[122] dann war's aus mit dir. Am andern Morgen der große Ekel – gleichfalls Abspannung, Erschöpfung, sonst nichts. Nun bist du wieder ein frischer Mensch. Nun wirf die letzte Seite weg und fahr bei der vorletzten fort; und dann unentwegt, aber nicht zu ruhelos, vorwärts bis zum Ende!

So tat ich und so ging's. Im Frühling (1862) war ich fertig. Dieses kleine Zwischenspiel hab' ich hier für andere Werdende erzählt, die vielleicht eine leidsparende Lehre draus gewinnen.

Inzwischen hatte auch der Journalist (den ich schon fürs tägliche Brot brauchte) doch nicht ganz geruht; für meine Süddeutsche Zeitung, dann auch für die Berliner Allgemeine Zeitung, mit deren Redakteur Julian Schmidt, dem Literaturhistoriker, ich in ein fast freundschaftliches Verhältnis kam, hatte ich geschrieben. Als der Sommer zum Reisen lockte, war ich »reich« genug, daß ich mich mit Friede Eggers verbünden konnte, der auf Kunstreisen ging; ja, ja, Kunst studieren und den Dichter Adolf Wilbrandt suchen! Die Kunst in den großen Städten, den Dichter still im Gebirg! Noch im Juni brachen wir auf, das erste Ziel war Dresden; auf Wochen: denn alles, was sehenswürdig war, das wollten wir sehn. Hatte ich bisher in Berlin und München die alten Meister der Malkunst mit Andacht, mit Wonne, aber doch noch mit ungeschulten Augen angeschaut, so ward nun im Dresdner Museum wahres, wirkliches Studium daraus; eine schöne und unvergeßliche Zeit. Wie vor einer Offenbarung stand ich (wieviele Mal) vor der Sixtinischen Madonna, »die zuletzt aufhört, ein Bild zu sein«, wie[123] ich damals schrieb, »und als göttliche Erscheinung den ganzen Geist durchrüttelt«. Aber bedeutender noch ward mir für alle Zeit, daß mir hier die Venetianer voll lebendig wurden, ich zuerst all die paradieshafte Seligkeit ihrer Kunst empfand, der Farbenhunger meiner Augen sich in der edelsten Sättigung stillte. Palma vecchio, Giorgione, Tizian wuchsen mir in den Himmel hinein. Im Wiener Belvedere sollten sich dann diese Dresdner Eindrücke aufs schönste befestigen, läutern, bereichern; eine ungeheure Eroberung ward Schritt für Schritt vollendet.

Dresden zeigte mir aber auch die Größe eines Lebenden, des Architekten Gottfried Semper, dessen Schaffensblütezeit wohl in seine Dresdener Jahre fällt. Mich erbaute sein Museum, mich begeisterte sein Hoftheater, diese glänzende Schöpfung, die, als sie sieben Jahre später im »Haß der Elemente« vergangen war, nach seinen Plänen neu entstand. Mich entzückten aber auch seine Wohnhausbauten, die er im Geist der Renaissance mit so viel Freiheit und Adel durchgebildet hatte, daß sie mich wie reine Poesie des Lebens berührten; so das Oppenheimsche Haus in der Stadt, das Muster eines Privathauses für mein Gefühl. Das ganze um eine Rotunde wie um den organischen Kern herumgelegt; von da breiteten sich die herrlichen Räume, von edler, prunkloser, aber leuchtender Schönheit, nach allen Richtungen aus; das schönste der Speisesaal mit seinem heimeligen Helldunkel, der malerischen Profilierung, dem zierlichen Holzgetäfel, den farbigen Fenstern und dem schimmernden Glasgemälde in der Nische. Bezaubernd[124] war der Blick vom Treppenhaus in die Rotunde hinein; wenn auch nicht mehr ganz so überraschend wie am Tag vorher in der Villa Rosa, die Semper gleichfalls für den alten Herrn Oppenheim gebaut und in die uns dessen Schwiegersohn, der Professor und Maler Grahl, eingeladen hatte. Auch diese Villa, drüben reizend am Elbufer gelegen, war um eine Rotunde herumgebaut; wie da alles von unten, von oben wirkte, wie die Menschen in erstaunlichen Beleuchtungen zur Geltung kamen, war meinen Augen wie ein Märchen.

Hier lernten wir auch in einer von Grahls Töchtern die Witwe des Malers Alfred Rethel kennen, der, mit sechsunddreißig Jahren unheilbar geisteskrank geworden, Ende 1859 gestorben war. Wir hatten schon in Grahls Wohnung Rethels nachgelassene Zeichnungen gesehen, einen erstaunlichen Reichtum von Ideen, Formen und Kompositionen, so daß man um den frühen Untergang eines so genialen Menschen trauern mußte, dem, wie die Zeichnungen zeigten, auch ein seiner und liebenswürdiger Humor nicht versagt war. Seitdem ist vieles aus diesem Nachlaß in Photographien erschienen; damals kannte die Welt noch nichts davon. Frau Rethel, eine so liebenswürdige wie anziehende Dame, zeigte uns nun auch ein Weihnachtsbüchelchen, das er mit sehr liebreizenden Miniaturzeichnungen angefüllt und ihr geschenkt, worauf sie es mit sinnigen Versen geziert hatte. Sie beschenkte uns mit Holzschnitten und Abdrücken nach Rethelschen Werken. Das Beste aber, was sie uns zeigen, nur leider nicht auch schenken konnte, war ihr und sein neunjähriges[125] Töchterchen Else, ein überraschend holdes und anmutiges Geschöpf, das in diesem Märchenhaus mir wie eine kleinere Mignon erschien. Sie stürmte zuerst mit anderen Kindern über mir an ein Gitter oder eine Balustrade vor, als ich unten in der Rotunde stand. Dann kam sie oft und verschwand, sah mich mit ihren schwarzen, römischen Augen (in Rom war sie zur Welt gekommen) durchdringend und doch kindlich an; so eigen, daß sie mir das Herz völlig abgewann. Als sie mir endlich mit ihrem ernsthaften, geheimnisvoll reizend klugen Gesicht so freundlich »Gute Nacht« sagte, da wünschte ich mir, so jung ich noch war, ihr Vater zu sein oder sie doch in die Arme nehmen und herzen und hegen, lehren und bilden zu dürfen.

Viele Jahre später stand ich in Aachen im Rathaussaal und beschaute die Fresken aus Karls des Großen Geschichte, mit denen Alfred Rethel diesen Saal geschmückt hat. Ich erzählte meiner Begleiterin, wie ich einmal sein Töchterchen kennen gelernt; da horchte das junge Fräulein auf, das den erklärenden Cicerone machte. Dieses Töchterchen, sagte sie, sei vor einiger Zeit als stattliche, noch jung blühende Frau hier im Saal gewesen, die Bilder ihres Vaters zu sehn. Wär' ich doch an demselben Tag hergekommen! dacht' ich.

Möge mir die Tochter des edlen Meisters nicht verargen, daß ich von der kleinen Mignon der Villa Rosa hier gesprochen habe.

Über Wien, das wir nach der Sächsischen Schweiz und Nordböhmen, nach Prag und Brünn genossen und studierten, habe ich schon in meinen »Wiener Erinnerungen« ausgeredet; dort trennte ich mich dann für[126] eine Weile von »Fridolin« und fuhr nach Gmunden am Traunsee, um die alte Sehn sucht zu stillen und an meinen tragischen Plänen meine Kraft zu prüfen. Die Schönheit dieses Sees berauschte mich; das herrliche Grün seines Hochlandwassers, die Pracht des nahen und fernen Gebirgs, die Lieblichkeit des Hügellands und des Trauntals, die Heiterkeit der von Sommerfrischlern zu Wasser und zu Lande belebten, villenreichen Stadt war mir auch wie ein Paradies. Sie war mir's seitdem noch manchesmal; der Traunsee gehört zu den nicht vielen Gegenden der Erde, zu denen mich eine Art Heimweh zieht. Hier ward es mir leicht und schwer, mich in meine Phantasien zu vertiefen; leicht, weil mich Poesie umgab, schwer, weil die Welt so verlockend schön war. Wenn ich, am Schreibtisch sitzend, an meiner Tragödie »Die Freunde von Bologna« oder (als ich die wieder verworfen hatte) an dem Trauerspiel der schönen Königin von Kastilien schrieb und durch das offene Fenster das wie von Tizian oder Giorgione gemalte Seebild hereinsah, das tiefe Samtgrün der Vorberge mit dem rasendmachenden Blau des Hochgebirgs zusammenschmolz, die buntgefärbten Gondeln oder »Schinak'ln« im verklärenden Sonnenlicht hin und wieder schwammen, die süß melancholische Musik der Echobläser herüberklang, wie wenn aus dem See herauf die Nixen riefen – dann fiel mir wohl die Feder aus der Hand, und Seligkeit und Sehnsucht machten mich verrückt. Nach einer Weile schrieb ich doch weiter; auch das tragische Schicksal berauschte mich. Wie Prometheus dacht' ich: »Hier sitz' ich, forme Menschen nach meinem Bilde...«[127]

Der Segen Gottes sollte aber meinem Formen noch fehlen (und noch nicht zum letzten Mal). An dramatischen Phantasien gebrach mir's nicht, immer neue kamen; sie aber mit fester Hand zu gestalten und die Adern dieser erdachten Menschen mit lauter lebendigem Blut zu füllen, dazu reichte es nicht; ich hatte zu lange Jahre in Politik, Wissenschaft, Kritik und Studienaller Art gelebt. Ich hatte noch nie mit der Bühne gelebt. In mein Reisetagebuch schrieb ich endlich den grimmigen Seufzer: »Alles, was ich bin und kann, ist Gärung.« Und am letzten Tag, eh ich mit dem mir nachgekommenen Eggers zur Gebirgsreise aufbrach: »Es ist alles noch Übung, Kladde und Shakespearerei!«

Eine gute Frucht dieses Aufenthalts und der Weiterreise war, daß ich einige merkwürdige und poetisch anregende Landeskinder kennen lernte, würdige Bewohner dieser großen Natur. Der eine war der »Ramsauer«, wie er nach seinem Bauerngut am Fuß des Traunsteins hieß; den Eggers und ich kennen lernten, als wir über die Himmelreichswiese und das Hochgschirr zum Laudachsee hinaufstiegen, der wild einsam, dunkelgrün, tiefgebettet, sozusagen am Felsenknie des Traunsteins liegt. Nur eine Almerin hauste dort in der einzigen Hütte; es war aber jetzt eine ganze Familie dort, auch der Almbesitzer, ein Mann mit einem Denkerkopf, guter Freund des Reichsratsabgeordneten Wieser und einer von den Bauernphilosophen, die das Salzkammergut hervorzubringen liebt. Hat doch dieses Gebirgsländchen auch den Protestantismus freudig aufgenommen und trotz aller Verfolgung nie mehr ganz verlassen; in Goisern, Hallstatt, Obertraun blüht die[128] Ketzerei noch heut. Der Ramsauer vom Laudachsee, der sich uns behaglich zutraulich anschloß und dann mit uns zur Kleinen Ramsau hinunterging, wo wir noch bei ihm einkehren und seine zehn Söhne anschauen mußten, der Ramsauer war Katholik, aber aufgeklärt, Gesinnungsketzer. Die Protestanten hier zu Lande, versicherte er uns, seien die tüchtigeren, die wertvolleren Menschen; und was die Machthaber in jenen blutigen Zeiten zur Vernichtung des Ketzertums getan hatten, das sah er als Verbrechen und Unheil an. Er sprach aber nicht wie ein Heißkopf, sondern sachlich, wohl auch resigniert, wie ein Philosoph. Ich fühlte zum ersten Mal tief, mit Trauer: wie viel schlummert hier; und wie anders stünde es um Deutschösterreich, wenn sich Luthers Werk auch hier wie das Edelweiß da oben frei entfaltet hätte!

So ein Hauch von elegischer Resignation lag auch über dem Müllerssohn, den Eggers und ich auf der Weiterreise, auf der Wanderung von Berchtesgaden nach Reichenhall entdeckten, als uns am Ende der (bayrischen) Ramsau heftiger Regen in das nächste Haus trieb. Wir gerieten in eine große Familie, fast alles schöne Leute, beiderlei Geschlechts; als nach einer Weile die jüngere Tochter in die Tür trat, eine Sennerin, die von der Alm zu Besuch kam (es war Sonntag), da starrten wir sie sprachlos an: so verblüffend schön! Die edelste Erscheinung war aber der älteste Sohn, eine große Prachtgestalt mit wohlgeformtem Kopf, blauen, ernsthaften Augen und verhalten schwermütig nachdenklichem Blick, der mich mehr und mehr ergriff. Er war in München Soldat gewesen, die große[129] Stadt, die Welt hatte ihn erregt, er sehnte sich, zu schauen, zu hören, zu erkennen; der bildungshungrige Deutsche, wie er in den Büchern steht. Als er Eggers' roten Bädeker sah, bat er ihn sich aus, um hineinzuschauen; und während wir mit den andern plauderten und die Mutter uns mit Pfauenfedern schmückte, vertiefte er sich in das Buch, vor Erregung und Freude nach und nach erglühend. Auf seine hungernde Seele wirkte offenbar der Bädeker, wie einst der Werther auf mich. Eggers sah und hörte das und schenkte ihn ihm; er dankte mit rührender Zartheit – die doch wie alles an ihm männlich war – wie für eine große Gabe, die ihn noch oft beglücken werde. Der Regen ließ endlich nach, er wanderte mit uns zur Schwarzbachwacht, dann zurück zum Hintersee; er öffnete uns sein Herz. Ihn bedrückte manches: die gefährliche Schönheit seiner Schwester, der die Münchener Malerkolonie in der Ramsau unablässig nachstellte; die Enge seines Lebens im Vaterhaus, unter dem strengen, tyrannischen, wenn auch nicht unguten Alten. O, wie ungleich verteilt! dachte ich beklommen. Du so gefangen, ich so frei! An dir nagt dein Geisteshunger, ich kann jeden stillen! Es tat mir fast wohl, daß ich doch auch noch so viel Ungenügen in meiner »gärenden« Brust hatte.

Wir brachten ihn im erneut strömenden Regen wieder an sein Haus, sagten Lebewohl und flohen im Sturmschritt, in der Finsternis nach Berchtesgaden zurück. Ich hab' ihn nie mehr gesehn. So ziehn wir aneinander vorbei, ich dir, du mir ein Fragezeichen, auf das keine Antwort folgt.

Der Schluß unserer Wanderung war zugleich die[130] Krone: Salzburg! Zum ersten Mal gesehn – welch ein Fest! Was für ein Wunderkind aus der Vermählung von Natur und Mensch!

Da fiel wohl alles von mir ab, was doch bei aller Jugendlust und Wanderfreude mir die Brust bedrückte. Da ward mir so hoffend und fromm zu Mut, wie es sich dann in Versen formte:


Herr der Felsen und der Auen,

Herr, nun lausch' ich dir getrost!

Ließest mir die Brust umgrauen

Wintersturm und Todesfrost;

Strömtest allzu heiße Gluten

Ins erfrorne Herz hinein;

Ach, in deiner Welt, der guten,

Wird auch mir ein Balsam sein!
[131]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Aus der Werdezeit. Erinnerungen. Neue Folge, Stuttgart, Berlin 1907, S. 115-132.
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