Vorwort zur zweiten Auflage

In die erfreuliche Notwendigkeit versetzt, der ersten Ausgabe meiner »Karolinger« jetzt schon eine zweite Auflage folgen zu lassen, fühle ich mich im Hinblick darauf, daß diese neue Auflage gleichzeitig als eine teilweise neue Bearbeitung des Stückes erscheint und einen von der früheren Fassung abweichenden, nicht unerheblich veränderten Schluß aufweist, denjenigen gegenüber, welche das vorliegende Drama in seiner ersten Gestalt kennen gelernt und für dasselbe Interesse gewonnen haben, zu einigen Worten der Erklärung veranlaßt.

Die Eigenartigkeit der dramatischen Dichtungsweise bringt es mit sich, daß das Werk mit seiner Entstehung auf dem Papiere noch nicht vollendet und abgeschlossen ist, sondern erst in der Berührung mit der Bühne, unter der lebendigen Mitwirkung der Zuhörerschaft zu voller Körperlichkeit sich entwickelt.

Erst wenn er als Zuschauer unter Zuschauern die eigenen Gestalten an sich vorüberwandeln sieht, ist der dramatische Dichter in die perspektivisch richtige Entfernung von seinem Werke geruckt, um prüfen zu können, ob sein dramatischer Gedanke imstande gewesen ist, sich einen dramatischen Leib zu schaffen; das eigene Werk löst sich von ihm los und tritt ihm wie ein fremdes gegenüber, und je mächtiger der in ihm treibende dramatische Instinkt ist, um so energischer wird diese Loslösung sich vollziehen.

Mit der Stunde der Aufführung, mit welcher das Publikum das Werk des Dramatikers für beendet hält, beginnt daher für letzteren, vorausgesetzt, daß er sich nicht am eigenen Werke berauscht, und daß er ein nicht nur für kurze Augenblicke blendendes, sondern auf fernere Zeiten hinaus wirkendes Gebilde zu schaffen sich bestrebt, die eigentliche Tätigkeit, denn mit dem Bewußtsein von den Unzulänglichkeiten seiner Schöpfung wird ihm gleichzeitig das unabweisliche Bedürfnis geboren werden, nachbessernd in das eigene Werk zu greifen, um alles, was an dramatischer Wirkungsfähigkeit in seiner Erfindung schlummert, zu nachdrücklichstem Leben hervorzurufen.

Dieses Bedürfnis erscheint mir als ein so entscheidendes Merkmal wahrhaft dramatischer Begabung, daß ich nicht anstehe, zu behaupten, daß aus dem Maße der Schonungslosigkeit, mit welcher der Dichter sein eigenes Gebilde wieder und immer wieder in die umgestaltenden Hände nimmt, ein unmittelbarer Rückschluß[237] auf das Maß seiner dramatischen Fähigkeit überhaupt gezogen werden kann.

Nicht Willkür, sondern innerste drängende Notwendigkeit ist es daher gewesen, welche mich trieb, den Karolingern denjenigen Schluß zu verleihen, mit dem sie jetzt vor das Auge des Lesers treten. Durch das Gesagte aber hoffe ich den Einwendungen derer begegnet zu sein, die geneigt sein möchten, dem Dichter dieses unaufhörliche Ringen mit seinem Stoffe als Schwäche auszulegen.

Diejenigen, welche so urteilen, befinden sich im Irrtum; es ist nicht Schwäche, denn nur derjenige, der das Feuer des Prometheus in seiner Hand empfindet, darf es wagen, die eigenen Gestalten zu vernichten, um neue, bessere an ihre Stelle zu setzen.

Berlin, am 31. Dezember. 1881.

Ernst von Wildenbruch[238]


Quelle:
Ernst von Wildenbruch: Gesammelte Werke. Band 7, Berlin 1911–1918, S. 237-239.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Karolinger
Die Karolinger. Trauerspiel in vier Akten