5. Der alte Frey

[42] Die schönste Zierde der freundlich gelegenen kleinen Stadt bildet »der schimmernde Gürtel des Schwabenlandes«, der gute, heimische Neckarfluß. Ich glaube kaum, daß er sonst irgendwo auf kurzer Strecke so mannigfache und reizende Ansichten bietet wie hier. Einmal, an einer Biegung zwischen dunklem[42] Weidengehölz, wo er nach der Volksmeinung so tief sein soll, »daß es über ein Haus hinaus ginge« (ein recht dehnbarer Begriff), gleicht er einem stillen, geheimnisvollen See, so unmerklich fließt er dahin, so unbewegt spiegelt sich das Ufergebüsch in seiner lautlosen Flut. Bald rauscht er gar fröhlich über helle Kieselsteinchen und schlingt sich um die schattige Nachtigalleninsel, wohin im Frühling die romantische Jugend rudert, um Veilchen zu pflücken und dem Philomelengesang zu lauschen, oder die schöne und vornehme Welt der nahen Garnisonsstadt auf buntbewimpelten Schiffen Lustfahrten macht. Leiser zieht er vorüber an der grünen Bleichinsel, und gelbe Seerosen mit ihren saftigen Blättern decken das stille Gewässer; dann fließt er wieder stolz hinaus ins offene Land und achtet nicht der stillen Murr, die durch eine gespenstische Brücke zwischen dunklen Weiden sachte herbeischleicht, um ihr trübes Wasser mit seinem klaren zu vereinen. Selbst da noch bleibt er schön, wo er als Kanal durch Menschenhände für praktische Zwecke in Anspruch genommen ist; silberschäumend stürzt er sich eine künstliche Schleuse hinab, durch die der Horkheimer Schiffer seinen bescheidenen Kauffahrer und der »Jokele« sein Floß schwellt. Und wie belebt ist sein[43] Gewässer zur Sommerzeit! Nicht nur durch die stattlichen Enten- und Gänseherden des Müllers, sondern auch durch das lustige Völkchen der »Wasserkinder«, die Sprößlinge der umwohnenden Fabrikarbeiter und Müller, ein fröhliches Nereidengeschlecht, das den ganzen lieben Tag, aller überflüssigen Hülle beraubt, im Wasser plätschert oder im Uferkies spielt, wenn sie nicht als ungebetene Hilfe das rastlose Schiff des Fährmanns schieben und zum Schreck seiner Passagiere in ihrem Naturzustand unter die anständige Menschheit hineinhüpfen.

Oh, ich könnte euch tagelang erzählen von den Schönheiten meines heimatlichen Neckars, zu Nutz und Frommen all derer, die nicht Zeit und Geld haben, eine Rheinreise zu unternehmen.

Das war nun aber zunächst nicht meine Absicht, sintemal wir gegenwärtig gar reich sind an Naturstudien.

Wenn ihr vom Neckarstrand aufseht zu dem grünen Rebenhügel, von dem das Städtchen über seine altersgrauen Mauern hinunterblickt, so fällt euch wohl ein hübsches stattliches Haus in die Augen, das sich außerhalb der Mauer an diese anlehnt und zwischen Traubengeländen und Obstbäumen gar einladend aussieht. Daneben hat es etwas Geheimnisvolles, indem man nirgends einen Eingang sieht; erst seitwärts erblickt man eine Türe, die über einen gepflasterten Hofraum ins Haus führt, was ihm ein fast orientalisches Ansehen gibt.

Der Eigentümer dieses wohlumschlossenen Besitztums hauste zur Zeit, als ich ihn kannte, fast ganz abgeschieden, ohne Verkehr mit der Außenwelt, in seinem Hause und Garten; ein rüstiger Greis mit einem rötlichen, stark ausgeprägten Gesicht, der seine geistige und körperliche Frische aus manchem Strudel gerettet, an dem minder kräftige Naturen gescheitert wären.

Er wollte nicht viel mehr von der Welt hören, der alte Frey, er hatte sie gründlich satt bekommen! Nur wenigen, bei denen er noch an aufrichtiges Wohlmeinen glaubte, stand seine Pforte gastlich offen. Unter diese wenigen gehörte mein Vater, und zwischen ihm und dem alten Frey fand ein steter Austausch kleiner Aufmerksamkeiten und Freundlichkeiten statt, bei dem[44] wir Kinder bereitwillig das Botenamt übernahmen. Bald schickte der alte Frey selbsterzogene, schöngefiederte Kapaunen, die mit einem Gegengeschenk von uraltem Kirschengeist vergolten wurden; dann wieder köstliche Trauben, auf die ihm der Vater seltene Obstsorten mit wunderbarlichen Namen: Götterapfel aus der Moldau, rosenfarbener Sommertaubenapfel usw., als Gegengruß sandte; oder kam zur Weihnachtszeit auserlesenes Hutzelbrot, das Herr Frey eigenhändig verfertigt hatte und zu dessen Erwiderung die Mutter eine Pastete verfertigen mußte.

Für uns fiel dann stets ein reicher Botenlohn an Leckerbissen aller Art ab; namentlich erinnere ich mich eines schönen Morgens, an dem wir beschlossen, den Tag über zu fasten, um uns in der Enthaltsamkeit zu üben, wie in Campes Robinson geschrieben steht, wo aber selbige edlen Vorsätze elendiglich untergingen an den Regensburger Striezeln und Nürnberger Kringeln, die uns der alte Frey verehrt hatte. Gar manchmal hat uns auf dem Heimweg vom Neckarbad ein freundlicher Ruf in seinen Garten gelockt zur freien Weide unter den Johannis- und Stachelbeeren. Die Kindheit, leichtherzig und vergeßlich, wie sie scheint, bewahrt doch solche Guttaten in treuem Gedächtnis; darum sind die wohlfeilen Freundlichkeiten, die ein Kinderherz erfreuen, gewiß nicht in Sand gesät.

Der alte Frey hatte nicht jederzeit so abgeschlossen in seiner Feste gehaust, nicht immer seine Freundlichkeit auf so wenige beschränkt. Es gab eine Zeit, wo die grünen Hügel um seinen Weinberg her widerhallten von dem Gekrach der Herbstschüsse, von dem Jubel fröhlicher Zecher; wo die Fluten des Neckars rot erglänzten von den Raketen und Feuerkugeln, die bei seinen Herbstfesten emporstiegen; wo man Champagner aus Schoppengläsern trank und die Holderküchlein gebacken am Baume hingen; wo der alte Frey, damals in Fülle der Manneskraft, mit fürstlichem Übermut Geldmünzen unter die balgende Straßenjugend warf.

Solche Zeiten übersprudelnder Lebenslust und stürmischer Gastlichkeit pflegen wohl am leichtesten zu der Salomonischen[45] Weisheit zu führen: »Alles ist eitel,« und mehr als ein Timon ist aus solch teurer Schule hervorgegangen.

Wer aber war denn der alte Frey, und woher stammte der Reichtum, den er mit so vollen Händen um sich warf? In den Augen des Volkes gibt ein schnell erworbener Besitz häufig ein dämonisches Ansehen, und so hörte man allerlei geheimnisvolles Geflüster über ihn, solange er noch in der Fülle seines Wohllebens war. Unheimliche Gerüchte liefen um über die Quelle seines Reichtums, zumal da man behauptete, er glaube an keinen Gott und keinen Teufel; man sehe ihn nachts wie wütend in seinem Garten umherrasen, er habe seine Seele den Mächten der Finsternis verschrieben um Geld und Gut; auch verstehe er zu »knüpfen«, d.h. den Fall der Würfel im Spiele zu lenken. Ja auch das Geheimnis, das den Tod seiner ersten Gattin deckte, sollte eine dunkle Tat verhüllen; man flüsterte davon, er habe sie in einem Wutanfall mit der Papierschere erstochen.

Wir aber wollen diese Geheimnisse ruhen lassen und uns an die Wirklichkeit halten. Der Frey war kein Engländer und kein indischer Nabob, er war sozusagen »nicht weit her«, ein eingeborenes Stadtkind. Aber von erlauchtem Geschlecht war er doch, wenngleich nur eines schlichten Bäckers Sohn; der erste Dichter des Schwabenlandes, der Ruhm und Glanz der kleinen Stadt, war sein leiblicher Vetter; ja, Freys Mutter hatte eine Zeitlang den Kleinen der Frau Hauptmann Schiller, ihrer Base, mit ihrem eigenen Knaben zugleich gestillt, und so hatte Frey dieselbe Muttermilch mit ihm getrunken. Und er war stolz auf diese glorreiche Verwandtschaft; ja er rühmte sich selbst eines Funkens von dem Dichtergeiste seines großen Milchbruders. Zeuge des waren einige poetische Inschriften, die da und dort an Bäumen und auf Steinen in seinem Garten angebracht waren; ich glaube aber seinem Dichterruhme mehr zu nützen, wenn ich der Phantasie des Lesers überlasse, sich diese Verse selbst vorzudichten, als wenn ich sie anführe.

Vor langen Jahren war der Frey als ein rüstiger Bäckergesell in die Welt hinausgewandert, ein rasches, heißes, junges[46] Blut und ein heller Kopf; es ging Wien zu, dem Athen der Bäcker. Wie es ihm in der Fremde ergangen, das kann ich im einzelnen nicht erzählen, aus dem einfachen Grunde jenes Juden: »i weiß aa nit«; er kam in die stürmische Periode der Kriege mit Frankreich, und wenn er sich nicht als Krieger ins Schlachtgetümmel stürzte, so gelangte er doch dazu, sich selbst und dem Vaterlande zu dienen als Proviantkommissär.

Die Sage verlautet nicht, daß er jemals persönlichen Anteil am Kampf genommen; zum Pulverriechen kam er jedenfalls. Der Glanzpunkt seiner Erinnerungen war, wie er einmal ganz in der Nähe des Generals Wurmser eine Talschlucht hinabgeritten, in einen Grund, wo das österreichische Heer sich aufstellen sollte. Mit dem praktischen Scharfblick, der ihm überall eigen war, sah er bald, wie höchst unsicher die Position da unten werden würde; er teilte die Bemerkung leise einem Subalternoffizier mit, der hieß ihn schweigen; er wagte sich an den Adjutanten. »Was Donnerwetter will so ein Mehlwurm wissen!« schnauzte der ihn an; da faßte er sich ein Herz und ritt an den General hinan: »Aber Herr, so gehen wir alle zum Teufel!« Der schaute ihn mit großen Augen an, fluchte aber nicht; nach einer Weile ließ er halten und untersuchte mit dem Fernrohr nochmals das Gelände. »Und Gott straf mich, er hat's geändert!« rief der alte Frey im höchsten Triumph; »weiß Gott, wir wären alle zum Teufel gegangen!«

Mit einem Orden ist trotz dieses Verdienstes der Frey nicht heimgekehrt, wohl aber mit Errungenschaften von greifbarem Werte.

Eine geraume Zeit war verstrichen, seit der muntere junge Bäckerknecht in die Fremde gezogen, als eines Tages in das alte Städtchen ein stattlicher, wohlgekleideter Herr einfuhr, in dem wenige den Frey erkannt hätten. Er zeigte sich bald als der alte aufgeräumte Bursche, freundlich und treuherzig gegen alte Jugendgenossen; aber seine Lebhaftigkeit hatte sich zur Heftigkeit gesteigert, und eine eigentümliche innere Unruhe schien ihn zu rastloser Beweglichkeit zu treiben. Er nahm das Erbe seiner Väter in Besitz, führte einen neuen Bau dazu auf,[47] vergrößerte Garten und Weinberg und begann nun ein Leben herrlich und in Freuden, wie das des reichen Mannes im Evangelium.

Das Gerücht von dem Bäcker, der als Millionär aus der Fremde gekommen, verbreitete sich mit reißender Schnelligkeit in der Gegend, und der Frey durfte nicht verlegen sein, wie er's angreifen wolle, ein Haus zu machen; Gäste und Besuche von nah und fern kamen dieser Absicht freundlichst entgegen. Ob's just eine Million war, die er erworben, wollen wir nicht behaupten; doch wäre ein gewöhnlicher Wohlstand in wenigen Wochen aufgezehrt worden von dem Leben und Treiben, wie er's daheim führte.

Zum alten Handwerk wollte er nicht mehr zurück, obwohl er als Ehrenbezeigung zum Obermeister der Zunft ernannt wurde und das Geschäft, das er so gut verstand, zum Privatvergnügen bis zu seinem Tode mit Lust und Liebe getrieben hat; zu wissenschaftlichen Beschäftigungen befähigte ihn weder seine frühere Laufbahn und Erziehung noch seine stürmische Natur, und so wurde er bald in Kreise getrieben, die seinen Durst nach Lebensgenuß und sein hingebendes, offenes Wesen noch mißbrauchten und steigerten.

Da der Frey seinen Reichtum beim Militär und durch das Militär erworben, so hielten die Krieger der nahen Garnisonsstadt sich verpflichtet, die Nemesis zu spielen und ihm diesen verjubeln zu helfen. Seit Menschengedenken war's in keinem Hause zu Marbach so in Saus und Braus hergegangen wie nun unter dem Dache des Frey. Zu Fuß, zu Roß und zu Wagen besuchten ihn seine kriegerischen Freunde, bald mit einem Pferde, bald mit einem Hunde, die zu verhandeln waren, bald zu einer Spielpartie, bald zu einem Schmaus ohne Titel. In den Zwischenzeiten fuhr oder ritt Frey in die Garnisonsstadt und bewirtete sie dort im Gasthof. Der Dämon der Spielwut faßte ihn mit festen Krallen und hätte wohl seinem Reichtum ein schnelles Ende gemacht, wenn er nicht wirklich mit fabelhaftem Glück gespielt hätte, was ihn, wie schon gesagt, in den Verdacht magischer Spielkünste brachte und bald einmal zu[48] einem tragischen Schluß geführt hätte. Ein reicher Wirt der Gegend hatte bis tief in die Nacht mit ihm gespielt und furchtbar verloren. Wütend über Frey, dem er die Schuld daran beimaß, führte er auf diesen, der arglos neben ihm stand, als er zum Heimritt aufstieg, einen gewaltigen Hieb mit der Reitgerte: »Da, das gehört auch noch dein!« und ritt im Galopp davon. Der Frey aber war nicht der Mann, der sich solches bieten ließ; er riß einem dabeistehenden Offizier den Säbel aus der Scheide und rannte dem Wirt nach, mit so wütender Hast, daß er nur mit äußerster Mühe eingeholt und abgehalten werden konnte, sich tot zu rennen.

In den Augen des Volkes galt er, wie ich schon erwähnte, für eine Art von Doktor Faust und sein Reichtum für eine Gabe finsterer Geister, und gar viele schüttelten bedenklich den[49] Kopf, wenn der Jubel und Trubel aus seinem Hause und Weinberge herüberdrang. Minder übernatürliche Vermutungen schien man in Wien über den Ursprung seines Besitzes zu haben: das Militärgouvernement, das es für ein ausschließlich soldatisches Vorrecht hielt, aus Kriegszeiten Vorteil zu ziehen, beschied ihn nebst einigen andern ehemaligen Proviantkommissären vor eine Untersuchungskommission nach Wien. Sie waren aber alle gar nicht neugierig, zu wissen, was man ihnen dort mitzuteilen habe, und sind samt und sonders ungehorsamlich ausgeblieben.

»Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht;« geht er zu Wein, so mag's wohl noch rascher mit dem Brechen gehen. Ob dem Frey plötzlich oder allmählich die Augen darüber aufgingen, daß er auf dem Wege zu gänzlichem Ruin an Leib und Seele sei, das ist mir unbekannt. Aber aufgegangen sind sie ihm, und mit all der Energie seiner starken Natur entschloß er sich, mit seiner bisherigen Lebensweise ganz und gar zu brechen, und er tat es rasch, entschieden, solange es noch Zeit war, recht anständige Trümmer seines Vermögens zu retten.

Mit den Herbstfesten und Champagnermahlzeiten, mit der gefüllten Spielbörse und den durchjubelten Nächten schwanden auch die Tafelfreunde, schwand sein fröhlicher Mut und sein Glaube an aufrichtige Freundschaft; er zog sich zurück in seine Burg und ward nur noch selten außerhalb seines Gartens erblickt.

Einer sprudelnden, sanguinischen Natur wie der seinen war ein verhältnismäßig doch rascher Glückswechsel nicht gut gewesen; er hatte ein wildes, fast wüstes Leben und Treiben geführt, und sein gutes Weib, die zweite Gattin, die aus der Stelle einer Haushälterin zu dieser Würde aufgestiegen war, hatte oft schwer unter seiner Heftigkeit zu leiden. Aber ein guter Grund seines Wesens: Offenheit, Freigebigkeit, männliche Geradheit und bürgerliche Ehrenhaftigkeit, war ihm auch während des Strudels seiner wilden Zeit eigen geblieben.

In Stille und Zurückgezogenheit, unter dem Einfluß der milden, schönen Natur, die ihn umgab, so oft allein mit den[50] Gedanken, »die sich untereinander verklagen und entschuldigen,« hat sich wohl ein anderer Geist Bahn gebrochen in seinem Herzen. Im Äußern ist er der alte geblieben, lebendig, auch wohl heftig, frisch und kräftig; aber dennoch war's ein anderes geworden mit ihm.

Wenn er die wenigen Freunde, für die seine Burg noch offen war, mit der natürlichen Herzlichkeit seines Wesens und der zeremoniösen Höflichkeit der alten Zeit bewillkommte; wenn er Kinder herbeirief und beschenkte oder wenn er mit seinem noch frischen, ausdrucksvollen Gesicht einsam in seinem Garten saß und hinunterblickte auf den blauen Neckar: da sah er aus wie einer, dem seine Bürde vom Herzen genommen ist.

Allein mit seinem guten Weibe, die er neben seinen ausgelassenen Freunden gar oft mit geringschätzigem Übermut behandelt hatte, wandte sich sein Herz jetzt wieder mehr ihr und der alten Einfachheit der Sitten zu, in der er aufgewachsen war. Ehrbar und demütig, wie in jungen Jahren mit Vater und Mutter, besuchte er Kirche und Abendmahl mit ihr und betete regelmäßig mit lauter Stimme den Morgen- und Abendsegen.

Es war an einem sonnigen Tage des Spätherbstes, als mein Vater einmal wieder seinen alljährlichen Besuch beim alten Frey machte. Das Beste, was sein Haus vermochte, schmackhafte Fische und edler Wein wurden in der Rebenlaube im Garten aufgetragen, und heiter wie immer, wenn auch allmählich gebeugt unter der Last der Jahre, saß der alte Mann neben seinem Gast.

»Jetzt sitzen wir nimmer oft so beisammen,« sagte er mit heiterer Miene. »Ei, Sie sind ja noch rüstig wie ein Fünfziger,« meinte der Vater. »Herr, das ist Ihr Ernst nicht! Aber Sie denken wohl: der alte Frey bleibt schon noch eine Weile sitzen; so ein alter halblahmer, blinder und geistesschwacher Kerl taugt doch nicht ins Himmelreich. Aber ich bin gewiß,« fuhr er mit erhobener Stimme fort, »der allmächtige Gott kann und wird mich einst verjüngen, und dann wird sich's zeigen, daß in dem alten Knorren doch noch ein gesundes Mark war.« Das war der letzte Besuch beim alten Frey gewesen.[51]

In seinen Knabenjahren hatte der Frey einmal mit seinem berühmten Milchbruder in einem Kämmerlein geschlafen. Mit lauter, herzhafter Stimme, wie er's daheim gewöhnt war, verrichtete er seine Abendandacht; in seinen stillen Gedanken gestört, fuhr ihn Schiller an: »Dummer Esel, kannst denn du nicht leis beten?« – »Kann nichts leis tun!« war die lakonische Antwort des Frey, und da hatte er recht; leise ging's nicht her bei ihm, bis in seinen Tod nicht. In einer Nacht, nicht lange nach jenem Besuch des Vaters, weckte er seine Frau: »Alte, ich kann nicht schlafen, ich glaub', es ist Matthäi am letzten mit mir.« »Um Gottes willen! Ich will ein Licht machen, zum Doktor springen!« »Nichts, Alte, gar nichts, da bleibst! Jetzt sitz auf, wir wollen ein Lied singen.« In gewohntem Gehorsam richtete die Frau sich auf, und mit seinem kräftigen Baß stimmte der Alte das Lied an: »O Jerusalem, du schöne usw.« Mit ungebrochener Stimme sang er es durch, begleitet von den etwas zitternden Tönen der Frau; dann legte er sich zurück: »So, jetzt schlaf wieder! Ich will auch schlafen.« Beruhigt durch seinen kräftigen Gesang legte sich die Frau an seiner Seite nieder. Als der helle Morgen anbrach, schlief er noch und ist nicht wieder aufgewacht.

Das war der alte Frey.

Möge der allmächtige Gott, dessen Auge besser als das unsrige das rechte Mark in dem alten Stamm erkannt, die zuversichtliche Hoffnung seiner letzten Tage erfüllt haben![52]

Quelle:
Ottilie Wildermuth: Ausgewählte Werke. Band 1, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1924, S. 42-53.
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