Am Morgen

[7] Als hoch am Himmelsbogen

Des Frühlings Sonne stieg,

Ging hoch mein Herz in Wogen

Und pochte stolzen Sieg.

Mit jedem stillen Triebe

Der Knosp' hab' ich gestrebt,

Und jedes Weh der Liebe

Der Rose durchgelebt.

Rückert.


Ich weiß nicht, ob andre Nationen so reich sind an Sprichwörtern, die mißtrauisch gegen frühes Glück machen, wie wir bedachtsamen Deutschen.

Ein Deutscher war Eulenspiegel, der weinte, wenn's bergab ging, im Gedanken an die nahe Mühe des Bergansteigens.

Morgenrot, Abend Kot. Das erste Gewinnen ist nichts nutz. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Wer zuerst den seidenen Rock verträgt, muß nachher den wollenen tragen. Man muß den Tag nicht vor dem Abend loben. Das sind lauter deutsche Sprichwörter, die uns am Ende wünschen lassen, nur baldmöglichst alles erdenkliche Drangsal durchzumachen, um damit eine Freikarte auf späteres Glück zu gewinnen.

Und doch ist ein heller Morgen so schön; glücklich sein erscheint ein so natürliches Vorrecht der Jugend, daß einem ein trübseliges junges Mädchengesicht wie eine Sünde gegen den Schöpfer vorkommt, und nur ungern möchte man der Jugend das lichte Morgenrot verbittern mit Hinweisungen auf einen trübseligen Abend.

Le ciel s'éclaircit au couchant ist eine tröstliche französische Sentenz; und es ist auch meines Erachtens viel weniger der Abend, für den wir bangen dürfen bei einem hellen Morgen, als der Mittag.

Der Abend hat wieder seine eigene Poesie: die Luft ist[7] kühler, man ist ein wenig müde, leichter zufriedengestellt, man denkt ans Schlafengehen.

Aber der Mittag, der schwüle heiße Mittag, der trockene prosaische, arbeitsvolle Mittag, der ist zu fürchten, und wo ihr morgenhelles Glück sehet, da fragt nicht bedenklich: Wird's auch am Abend noch so aussehen?, fragt lieber: Wie wird wohl der Mittag sein?

Der Mittag ist's, der die rosigen Morgenwölkchen zerstreut, sein unerbittliches Licht macht die Täuschungen der duftigen, oft nebelumhüllten Frühe klar, der Mittag des Lebens zerstört seine Morgenträume. Aber am Mittag gilt's auch, sich mutig durchzuschaffen und zu ringen und, statt sich in die Morgendämmerung zurückzuträumen, lieber vorauszublicken nach der Ruhe des Abends; und wohl dem, der sich durchgerungen hat zu einem klaren, friedevollen Tagesschluß.

Quelle:
Ottilie Wildermuth: Ausgewählte Werke. Band 2, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1924, S. 7-8.
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