Hoffen und Harren

[115] Der Pfarrer in der Nähe starb, und Lehner kam in eine entlegenere Gegend. Die Besuche wurden gar selten, aber dafür kamen Briefe: wieder eine neue und ganz unerhörte Glückseligkeit für Luisen, die noch nie einen Briefwechsel angeknüpft hatte. Ursel, die alte Bötin mit ihrer ungeheuren Ledertasche, war ihr nun die holdseligste Erscheinung von der Welt; es wurde ihr manchmal möglich, in lauen Sommernächten aus dem Haus zu schlüpfen und über den alten Kirchhof hinaus der Ursel entgegenzugehen, wenn sie von der Stadt kam.[115] Wenn diese dann mit gutmütigem Brummen: »Wurd et so pressiera« den gewünschten Brief fand, – mit welchem inneren Jubel schob ihn dann Luise ins Täschchen und flog nach Haus und stahl sich in das Stübchen, das sie mit den Kleinen teilte, und küßte diese in ihrer Herzensfreude und las bei dem Sparlicht, das ihr gestattet war, die geliebten Zeilen!

Ihr selbst, die just keine geübte Briefstellerin war, machte es freilich einiges Drangsal, bis sie die Antwort zustande gebracht; sie versuchte wohl hie und da ein Wort auf der Schiefertafel, bis es orthographisch richtig aussah, oder fragte heimlich Gabriele um Rat, die unter Anleitung eines neu angestellten Hauslehrers gute Fortschritte machte; – aber allmählich lernte sie leichter und freier ihr liebendes Herz im Briefe ausdrücken, und sie war so glücklich, so dankbar für diese neue Freudenquelle.

Die Leinwand war gesponnen und gebleicht; die Mutter hatte auch Luisen auf ihr Bitten von den Leinwandvorräten der verstorbenen Mutter übergeben, obgleich sie es für höchst vorzeitig hielt, und Luise, die ja so leicht einige Nachtstunden opfern konnte, seit die kleinen Geschwister ruhig schliefen, sah mit stiller Freude ihren kleinen Vorrat sich mehren und überraschte den Bräutigam bei seinen seltenen Besuchen immer wieder mit neuem Zuwachs.

Lehner hatte ihr einmal den Magisterzettel mitgebracht; auf dem strich sie gar pünktlich die Angestellten aus und zählte und zählte, wieviel Namen noch vor dem einen lieben stünden, der einst der ihrige werden sollte; ach, es waren noch viele, gar viele. Luise, die sanfte liebevolle Luise ertappte sich einst mit Schrecken auf einer gottlosen Regung von Freude, als der Vater bei Lesung der Zeitung ausrief: »Was? drei Pfarrer gestorben!« Für minder gottlos hielt sie den freundschaftlichen Wunsch, daß alle alten müden Pfarrherrn sich alsbald zur Ruhe setzen möchten, um jungen Vikaren Platz zu machen.


Es verging ein Jahr ums andre, Lehner zog landauf und ab, wenn irgendwo ein Patronats- oder Gemeindedienst erledigt[116] wurde – – immer vergeblich. Alte Pfarrer, gleichfalls längst Verlobte, ehemalige Hofmeister des Gutsherrn, gewandte, elegante, junge Leute in Glacés, liefen ihm den Rang ab; immer kleinlauter kehrte er von solch vergeblichen Feldzügen zurück, immer aber fand er Luisen trostvoll und hoffnungsreich.

Gabriele und Kornelia, ein paar schnippische, gewandte Backfische, waren in eine Pension gebracht worden, »aus mütterlicher Fürsorge für Luise«, wie die Frau Pfarrerin ihren Freunden im Vertrauen sagte, »damit ihre aufblühende Schönheit nicht Luisens verblühendes Aussehen zu sehr hervorhebe«. Theodor war bereits Vikar beim Vater und Fritz als Kaufmannskommis auf Reisen, Bruno auf der Universität, Artur im Gymnasium, – Luise saß noch immer am runden Tischchen und nähte an der Aussteuer, wenn eben nichts für Mama und Schwestern und Brüder zu arbeiten war, und sah auf den Weg, den die alte Bötin heraufkommen mußte. Sie flog ihr nicht mehr nächtlicherweile entgegen, wäre auch gar manchmal vergeblich gegangen; denn wenn nicht eben eine Meldung im Gange war, so wußte August nicht viel zu schreiben. »Es bleibt ja beim alten bei uns,« meinte er; »du weißt schon lange alles, was ich dir schreiben könnte.« Ach, sie hätte es so gar gern noch einmal gelesen, – doch blieb sie guten Mutes und unverdrossen.

Gabriele und Kornelia kehrten aus der Pension zurück mit feiner Bildung und neuen Stickmustern und machten Aufsehen in der Nachbarstadt. Es dauerte nicht lange, so war Gabriele die Braut des jungen praktischen Arztes daselbst mit Anwartschaft auf die Oberamtsarztstelle; Luise half das Haus bekränzen zur Verlobungsfeier und kochte das Festmahl; was von ihren verfertigten Aussteuervorräten fein und tauglich genug erfunden wurde, das nahm man für Gabriele, die bald Hochzeit feiern sollte: »Du hast ja Zeit, Luischen, neues anzufertigen!« Sie lächelte gutmütig und fing von neuem an, doch meinte sie oft selbst, die Stiche flögen nimmer so rasch wie das erste Mal.
[117]

Der Pfarrer starb, und Luise mußte das Vaterhaus verlassen: den Apfelbaum, unter dem sie sich verlobt, das Fenster, von dem aus sie so manchmal den Bräutigam kommen gesehen, die Stätte, ach, wo sie ein Recht hatte, daheim zu sein!

Luise und ihre Brüder bezogen ein höchst bescheidenes Erbteil, die Stiefmutter aber war durch Erbschaften von Mutter und Tanten sehr wohlhabend. »Ihren Kindern zulieb, um ihre Erziehung passend zu vollenden,« beschloß sie das Opfer zu bringen, in die Residenz zu ziehen, »obgleich sie selbst die Stille des Landlebens weit vorgezogen hätte.«

»Du bleibst natürlich vorderhand bei uns,« sagte sie gnädig zu Luise, »wir müssen eben sehen, wie wir's mit dem Raum machen; sind freilich jetzt Mädchen genug.« Diese fühlte erst bei solchen gutgemeinten Worten mit tiefem Weh, daß sie kein Heimatrecht mehr habe. Doch faßte sie sich wieder und meinte, wenn die Mutter erlaube, wollte sie sich nach einer Stelle umsehen, da nun ja Kornelia und Adelgunde erwachsen zu Hause seien. Großmütig gab dies die Mutter nicht zu, zumal da bei Gabrielen, die längst Hochzeit gefeiert, ein Wochenbett in Aussicht stand und ein junger Vetter, ein vielgereister, gewandter Kaufmann, Absichten auf die aufblühende Adelgunde zeigte, wo es dann wieder eine Aussteuer zu fertigen gab.

Lehner war in den Tagen der Trauer der Familie treulich und teilnehmend zur Seite gestanden. Es tat ihm sehr weh, daß er Luise jetzt keine Heimat bieten könne, und er meinte, er dürfe nun doch auch beginnen, sich um Staatsdienste zu melden.

Ach, aber der Magisterzettel zeigte noch lange Reihen von Vormännern, und obgleich Luise sich bereit erklärte, ihm auf die rauhe Alb oder sogar aufs öde Hardfeld zu folgen, so war doch selbst bei den bescheidensten Meldungen keine Spur von Hoffnung.

Theodor war nun auswärts Vikar; der Schwager stand ihm gutmütig mit seiner Erfahrung bei im neuen Amt, Luise freute sich dessen von Herzen; aber als sie einmal, wie Lehner ihre Anwesenheit nicht bemerkte, diesen zum Bruder arglos sagen hörte: »Hör, nimm dich doch in acht, da so viel Töchter im Hause sind;[118] zu frühe Brautschaften taugen nichts!« – da zog sich schmerzlich ihr Herz zusammen, und ein leiser Stachel blieb in ihrer Seele.

Lehner wurde als Amtsverweser in eine entferntere Gegend berufen; er meldete sich dringlich und unaufhörlich, fast um jeden aufgehenden Dienst, so daß er beim Konsistorium fast sprichwörtlich wurde und es bei Sitzungen ein allgemeines Gelächter gab, so oft der Präsident sein Meldungsgesuch mit den phlegmatisch ausgesprochenen Worten beiseite legte: »Wird warten können.«

Luise pflegte Gabrielen im Wochenbett, nähte Adelgundens Aussteuer und Brautkleid und begleitete sie zum Altar. Bei Gabrielens Hochzeit war sie noch als weißgekleidete Brautjungfer mitgegangen, bei Adelgunde meinte die Mutter, ein dunkles Kleid sei für sie tauglicher.

Der alte Schuster war gestorben, noch ehe er das Ruhestübchen im Hause des Sohnes erlebt; Katharine, deren sich Luise, soweit es ihr immer möglich war, treulich angenommen, war in Diensten, und der Christian auf der Wanderschaft. Lehner schrieb mit neuer Hoffnung: die Schwester eines Oberkonsistorialrats, eine Frau Geheime Oberfinanzrätin, war mit ihrer Tochter, einem kränklichen Fräulein, in das Dorf gekommen, wo er Amtsverweser war, um Landluft und Kuhstallausdünstung zu genießen; er wurde oft zu den Damen berufen, um dem Fräulein Trost zuzusprechen, vorzulesen usw. Die Frau Geheime Oberfinanzrätin war sehr dankbar, sehr gütig und verbindlich gegen ihn und hatte ihm Fürsprache bei ihrem Bruder zugesichert; die Pfarrei Kaltennest war frei mit fünfhundert Gulden festem Gehalt und beweglichem Holzeinkommen, da konnte es nicht fehlen. In Luisens Herzen ging's auf wie Sonnenschein: »Immerhin nach Kaltennest! Ich will es schon warm und heimisch machen.«

Quelle:
Ottilie Wildermuth: Ausgewählte Werke. Band 2, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1924, S. 115-119.
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