I.

Wenn ich daran gehe, mein Leben aufzuzeichnen, so tue ich es aus Dankbarkeit gegen die Natur, die mich mit reichen Gaben ausgestattet hat. Sei es nun, daß sie mir nicht auch die Kraft gab, diese Gaben zu verwalten, sei es, daß widrige Schicksale mich in der Entfaltung hemmten – eines ist gewiß, daß ich niemals geworden bin, was meine Anlagen versprachen. Wie aber alles mit mir kam, will ich aufschreiben und das Leben, das ich erhalten, will ich den Menschen zur Kenntnis bringen, damit es nicht umsonst gelebt sei, sondern eine schaffende Kraft werde, die das Denken anderer beeinflußt und der Natur bei der Formung künftiger Individuen behilflich sei.

So nehme ich denn alle Kraft und allen Mut zusammen, um ehrlich an mein Werk zu gehen. Denn wahrlich es gehört viel Kraft und Mut dazu, in die Dunkelheiten des eigenen Lebens hineinzuleuchten. Es wird manche Schuld, bisher anderen Menschen und äußeren Umständen zugeschoben, im Laufe der Betrachtungen dem eigenen Charakter[15] zur Last fallen. Und vielleicht denke ich am Ende dieser Aufschreibungen gänzlich anders über mich als jetzt am Anfang. Auch dies muß gewagt werden und kann vielleicht zu einem Bankerotte führen. Freilich nur dann, wenn er jetzt schon latent vorhanden ist. Dies kann ich heute nicht wissen. Denn wenn ich mir auch stets die wahrheitsgetreueste Selbstkritik auferlegt habe und bei jeder meiner Handlungen mich geprüft habe, welchen inneren Beweggründen sie entsprangen, so ist man oft im Drange einer Leidenschaft oder Erregung außer Stande, aus der richtigen Kritik die richtigen handelnden Konsequenzen zu ziehen. So wird man allmählich von seiner Erkenntnis abgedrängt, unsere Handlungen schicken sich an, ein Leben auf eigene Faust, unbekümmert um unser Urteil, zu führen. Wir können sie nicht mehr beeinflussen und blicken ihnen nach, so wie ein Herr seinem Diener nachblickt, dem er einen Auftrag gegeben, und von dem er sieht, daß er seine eigenen Wege geht und des Befehles vergessen hat. Der Herr möchte ihn zurückrufen und beschuldigt sich selbst in der Verzweiflung, den Auftrag nicht richtig und deutlich gegeben zu haben. Jener aber ist außer Hörweite und der Auftraggeber von den Ereignissen so verwirrt, daß er nicht die Kraft hat, jenen einzuholen. So kann es geschehen, daß der Diener hingeht und eine Untat begeht. Und wenn man ihn verhört,[16] wird er möglicherweise sagen, der Herr habe sie ihm anbefohlen. Und dieser wird keine Beweise dagegen haben.

So – glaube ich – kann es uns mit unseren Handlungen ergehen, wenn wir es auch nur einmal versäumt haben, ihnen von unserer Erkenntnis klaren Auftrag geben zu lassen. Wie oft habe ich dieses erlebt. Und vielleicht – indem ich dies bekenne – habe ich schon den Finger auf die Wunde gelegt, aus der mein Leben allmählich verblutet.

Ich habe vor Zeiten daran gedacht, aus meinem Leben einen Roman zu machen, wie dies schon viele vor mir getan haben. Es ist aber viel Lüge in solchen Büchern und sie dienen meistens nur dazu, die klare Anschauung vom Leben zu verwirren. Der Roman gehört der Kunst an; aber die Kunst hat eigene Gesetze, die mit denen des Lebens längst nicht mehr übereinstimmen. Wenn sich der menschliche Geist eines Gegenstandes bemächtigt, so ist er leicht geneigt, ihn nach Gut und Böse in sein Inventar aufzunehmen und danach seine Beschreibung des Gegenstandes zu geben. So kommt es, daß auch in jenen Büchern, welche das Leben des Autors zum Gegenstande haben, viel von Gut und Böse die Rede ist und demnach auch von einem Dritten, in Bezug auf welches eben jenes Gut und Böse gilt. Dieses Dritte heißen sie verschieden: Zweck, Ideal, Gott. Es gibt aber jenes Dritte unter diesem Namen nicht,[17] ebensowenig wie es dergleichen für die übrige Natur gibt, von der wir nur durch ein höheres Bewußtsein unterschieden sind. Auch für uns gilt nur das Gesetz der Ursachen und Wirkungen, freilich mit der Zugabe, daß wir darum wissen, während wir davon überzeugt sind, daß die übrige Kreatur über dieses Wissen nicht verfüge. Aber dieses ist auch der einzige Unterschied zwischen uns und jener. Und auch diesen kennen wir nicht genau.

Indem also viele ihr Leben in Bezug auf jenes Dritte aufschrieben, haben sie Wahrheit und Wirklichkeit gefälscht und sich verdorben und zum wirklichen Leben untauglich gemacht. Ich aber will, daß man durch meine Aufzeichnungen tauglicher werde zum Leben. Darum lasse ich Gut und Böse und jenes Dritte beiseite und spreche nur von Geschehenem, ohne ihm eine Richtung zu geben, die nur in meinen Wünschen oder in einer vorausgesetzten Moralität alles Geschehenden liegt. Außer, ihr wollet unter Moralität jene Gesetzlichkeit verstehen, welche als das Wechselspiel von Ursachen und Wirkungen in uns lebendig ist. Da kann es freilich unserer inneren Wirklichkeit ungemäß sein, wenn wir Wirkungen wollen, deren Ursachen wir nicht in uns tragen aber vorgeben, oder wenn wir Ursachen ableugnen, deren Wirkungen klar zutage liegen. Denn beides sind Lügen, und die Lüge ist die einzige Sünde, schwerer denn[18] Mord. Indem nämlich einer seine Hand bewaffnet und den anderen umbringt, hat er nur eine Wirklichkeit in die andere umgewandelt, einen wirklichen Menschen in einen wirklichen Leichnam. Er ist dafür nur den anderen verantwortlich, welche den Mord wegen der Gesellschaft nicht dulden. Vor sich selber und manchem Weisen mag er ein Heiliger sein. Wer aber lügt, der hat ein Etwas erzeugt, das es nicht gibt, vielleicht auch ein Wirkliches in ein Nichtwirkliches verwandelt bei dem, der im guten Glauben ist. Und daraus kann Jammer kommen ohne Ende.

Ich aber habe viel gelogen in meinem Leben.

Quelle:
Wildgans, Anton: Mein Leben. In: Ich beichte und bekenne. Leipzig 1933, S. 13–39, S. 15-19.
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