Bierkügles-Bock

[246] Das war vor einer Woche geschehn. Als mir Uli nunmehr, nach seinem Weggehn vom Pennal, diese Dinge auseinandersetzte, wandte ich ein: »Aber, Uli, hat er nicht vielleicht doch ein dir gehörendes Exemplar erwischt?« – »Unmöglich!« schrie Uli – »seit vier Wochen ischt kei Exemplar bei mir – aus Vorsicht han i alles beseitikt! Nie – der – träch – tik – ge – loge – ond – be – troge hat der Ssaubock! Aber wart, Füchsle! 's Fangeisen lauert scho auf di – bald hat's gschnappt!«

Was Uli angedroht hatte, ging in Erfüllung. Persönlich spielte er dabei keine andre Rolle, als daß er die Fuchsfalle gestellt hatte – was schon vor Wochen geschehen war. Eben weil Bock davon Witterung erhalten hatte, war er mit seinem Ränkespiel rasch bei der Hand gewesen – durch vernichtenden Hieb hatte er dem Angriff des Gegners zuvorkommen wollen. Das war ihm zwar gelungen, aber nun platzte der Angriff los, den Uli gegen ihn eingeleitet hatte. Daß Uli inzwischen von der Schule entfernt war, machte nichts; die von ihm gestellte Falle bedurfte, um zuzuschnappen, nicht seiner Anwesenheit.

Angesponnen hatte sich die Sache folgendermaßen: Bei verstohlenem Biertrunk im »Waldhörnle« war Uli mit der Kellnerin Alma Freund geworden. Sie hatte ihm anvertraut, Präzeptor Bock, ihr täglicher Gast, prelle sie planmäßig um einen Teil der Zeche; fast jedesmal unterschlage er etliche Bierkügelchen. – Brachte die Kellnerin dem Gaste einen Schoppen,[247] so legte sie auf den Untersatz ein Schrotkorn. Um die Zeche festzustellen, brauchten bloß die Bierküglein gezählt zu werden. Natürlich setzt diese Einrichtung voraus, daß die Gäste Redlichkeit bewahren – und in dieser Hinsicht hatte Alma bis dahin keine üblen Erfahrungen gemacht. Der Saubock aber war nicht, was der Studio »bierehrlich« nennt. Beim Kassemachen hatte Alma bemerkt, daß ihr am Gelderlös jedesmal, wenn Bock gezecht hatte, etliche Schoppen fehlten. Er mußte also Bierkügle verschwinden lassen. Geschah's aus bloßer Unbedachtsamkeit? Undenkbar! Er war doch kein Neuling auf der Bierbank! – Alma hatte dem Wirt ihr Leid geklagt, doch dieser hatte erklärt, sie dürfe keinen Gast beschuldigen, ohne Beweis zu haben. Mit Bock mochte er's nicht voreilig verderben – und so hatte die Kellnerin einstweilen den Schaden zu tragen.

Als Uli die Geschichte hörte, blitzte sein Auge wie das eines Jägers, dem ein Wild ins Garn gehen will. Er entwarf den Plan zu einer Verschwörung, um den Betrüger zu entlarven. Ein paar Gogen, von Alma beschafft, waren die Mitverschwörer. Wochenlang überwachte man den Saubock im »Waldhörnle«, wobei auch Wirt und Wirtin halfen. So wurde festgestellt, daß Bock, wenn er sich unbeobachtet glaubte, ein paar Bierkügle vom Untersatz nahm und in der Westentasche verschwinden ließ.

Die gelegte Schlinge wurde zugezogen, als Bock inmitten einer Gesellschaft angesehener Männer kneipte. Beim Rechnungmachen gab er an, neun Krüge Bier getrunken zu haben, und wies auf die neun Bierkügle, die da lagen. »Zwölf hänt Sie – ond mit zwölf Kügle han i au markiert.« – »Wenn aber bloß neun da send!« knurrte Bock. – »Na hänt Sie halt drei wegtan,« war die ruhige Antwort. – Bock war aufgesprungen und versuchte, sich in die Brust zu werfen: »Ha! Herr Wirt!« – »Da bin i!« sagte der Wirt. »Weiß scho! Hab[248] die Sach beobachtet, mit meiner Frau – heut schon den vierte Abend. Die Kügle hänt Sie in der Westentasch da ...« Bock wich einen Schritt zurück und machte eine abwehrende Handbewegung – ein umgestoßener Bierkrug entleerte sich.

Plötzlich waren die beiden Gogen an seiner Seite, und jeder hatte einen Arm Bocks in festem Griff: »He holla, Herr Präzeptor! Vorsicht! gelt?« Zu gleicher Zeit hatte jener Kellner, der zu den Verschworenen gehörte, in Bocks Westentasche gegriffen, und da waren die Kügelchen! »Ha natürli! Drei Stück!« – Saubock, den die Gogen nicht mehr gepackt hielten, war bleich geworden und stammelte: »Ha waas ischt jetzt dees? Bin denn i –?« – Von den Tübinger Honoratioren, die Zeuge dieser Szene waren, versuchte einer die Sache ins Harmlose zu ziehen: »Der zerstreute Professor – hat in Gedanken ...«

Das war der Strohhalm, an den sich der Ertrinkende klammerte: »I glaub wahrhaftik, Sie hänt recht! Ssimpel, der i bin! Jetzt also, Freilein Alma – da hänt Sie drei Mark Trinkgeld – fünf Mark – zehn Mark! als Pauschalsumme, gelt?« – »Trinkgeld will i koins,« entgegnete Alma frostig – »ond Manko han i weit mähr ghätt.« – »Also! Dees zahl i! Nicks für ungut, Freilein! Schicken Se mir die Rechnung, gelt?« Angstschweiß auf der Stirn, strebte Saubock nach seinem Hut – man ließ ihn ziehn, ohne zu antworten.

Dann brach die allgemeine Aufregung los – die einen schimpften, andere lachten, wieder andere meinten, es könne tatsächlich Zerstreutheit vorliegen. »Wenn an net grad dees!« sagte der Wirt. »Aber üble Ahngewohnheit – er kann's net lasse! Von seiner Studentezeit her! Er macht's au mit de Laugebretzle so.« – Was diese knusprigen Salzbrezeln betrifft, so wurden sie oft vom Wirt den Gästen gespendet. Während diese dann mit Anstand und Bescheidenheit zulangten, hatte[249] Bock die unsaubre Manier, mit seinen Tintenfingern die Brezeln zu betasten und etliche zu zerbrechen, so daß anderen Gästen der Appetit verging. Was nun auf dem Teller liegen blieb, war Saubocks unbestrittene Beute.

Mildernde Umstände machte Alma für ihn geltend, indem sie auf sein häusliches Leben verwies. Eine lüderliche Schlumpe hab er zur Frau, die auch noch e Drache sei – Trost könn' er ja bloß im Wirtshaus finden. Dieser Ansicht trat die öffentliche Meinung bei, und »Bierkügles-Bock« hieß jetzt der Präzeptor – bis man geltend machte, der Name »Ssaubock« sei halt doch bezeichnender, weil er alles in allem enthalte. In lachendem Geschimpfe ging die Entrüstung über Bock unter. Er gehörte zu jenen Originalen der Stadt, denen man eine Art Gewohnheitsrecht einräumte. Die Schulbehörde, zu der keine Anzeige gelangte, bloß ein Gerücht, war heilfroh, daß sie in der Sache nicht zu rühren brauche, und tat so, als liege hier bloß Zerstreutheit und Taktlosigkeit vor. Sie legte Bock nahe, Tübingen zu verlassen – und das tat er bald – an andres Städtlein beglückte er – als Rektor einer Mädlesschul'.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 246-250.
Lizenz:
Kategorien: